Christine Lehmann: Alles nicht echt
Vor wenigen Wochen erschien mit „Alles nicht echt“ der 13. Lisa-Nerz-Krimi von Christine Lehmann: Wie in allen Bänden kämpft die Hauptfigur furchtlos gegen das allgegenwärtige Patriarchat, die Stuttgarterin Lehmann bestätigt ihren Ruf als politische Krimiautorin. Dieses Mal ermittelt Lisa außerhalb der schwäbischen Metropole in einer ungenannten Stadt – undercover in einer öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk als linksgrün-versiffter Staatsfunk? Oder als Paradies des unabhängigen Journalismus? Die von rechten Kräften verbreitete Verachtung gegenüber den Öffentlich-Rechtlichen weist die ehemalige SWR-Nachrichtenredakteurin mit diesem Krimi überzeugend zurück, indem sie tiefe Einblicke in den Produktionsalltag des Radioprogramms und speziell der Redaktionen gewährt. Zugleich problematisiert und kritisiert sie die typischen Mechanismen des Journalismus, die sich auch im ÖRR finden.
„Alles nicht echt“ ist ein differenziertes Buch: Lehmann zeigt geschickt auf, wie wichtig die Institution des ÖRR ist. Und wie abwegig die Verleumdung als Staatsfunks. Dennoch animiert dieser Krimi dazu, auch bei den Nachrichten der ÖRR-Programme kritisch zu bleiben. Warum thematisieren Redaktionen dies und nicht jenes? Welche Politikerinnen und Politiker zitieren sie außergewöhnlich häufig – und warum? Wie formulieren sie Nachrichtenbeiträge – und was steckt hinter einzelnen Formulierungen?
„… Kind bei Autounfall getötet …“
„Autofahrer tötet Kind wäre treffender“, stolperte es aus mir heraus. „Oder Autofahrerin. Klare Täter-Opfer-Beziehung.“
Christine Lehmann: Alles nicht echt, S. 69
Christine Lehmann beschäftigt sich in „Alles nicht echt“ intensiv mit diesen und vielen weiteren Fragen – der Krimi wird zur Rahmenhandlung. Im Kern handelt es sich um ein unterhaltsam geschriebenes Lehrbuch über Medien und Populismus, angereichert mit vielfältigen Kommentaren zu Themen wie Patriarchat, Geschlechtsidentitäten, Rassismus und fahrradgerechter Stadt.
Lisa Nerz ermittelt verdeckt im ÖRR
Dieser 13. Fall für Lisa Nerz ist besonders: Auf Bitten ihres Ehemanns – Staatsanwalt Richard – schleust sie sich in die Rundfunkanstalt in einer ungenannten Großstadt ein. In dieser Sendeanstalt hat ein Insider sensible Daten gestohlen – Lisa soll den Verantwortlichen für diesen Datendiebstahl in der News-Redaktion aufspüren. Als ehemalige Journalistin ist sie für diese Undercover-Tätigkeit prädestiniert.
Es bleibt nicht beim Datendiebstahl: Zudem entdeckte die örtliche Polizei einige Tage zuvor in einem Kanal eine nicht identifizierte Frauenleiche, auch dieses Tötungsdelikt spielt in „Alles nicht echt“ eine Rolle. Ein Anschlag auf eine rechtspopulistische Politikerin kommt hinzu. Hängen diese Fälle zusammen?
Christine Lehmann legt ihren Fokus aber nicht auf diese Krimi-Handlungsstränge: Sie will über die Strukturen und die Mechanismen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk aufklären. Als Leserinnen oder Leser begleiten wir Lisa durch das riesige und verwinkelte Rundfunkgebäude, bei den Begegnungen mit sexistischen Chefs und unsolidarischen Mitarbeitenden, bei den täglichen Produktionsabläufen.
Wir sind fasziniert und erschrocken. Lehmann zeigt die Professionalität des ÖRR, sie schildert aber auch ein ÖRR-System unter öffentlichem Druck. Soll die Nachrichtenredaktion über die aktuellen Provokationen der rechtspopulistischen Politikerin Unterwasser berichten? Die Meinungen im Redaktionsteam gehen auseinander. Die Realität ist: Auch der ÖRR leitet die Ungeheuerlichkeiten und glatten Lügen weiter und verhilft damit zur Reichweite. Als Lisa eine entsprechende Meldung mit einem Faktencheck versieht und Unterwasser der Lüge überführt, verstößt sie gegen die Redaktions-Richtlinien. Der Rechtspopulismus als Herausforderung für den ÖRR: Viele Journalistinnen und Journalisten halten dagegen, der ÖRR scheint aber auch kein Bollwerk zu sein.
Die Autorin greift in „Alles nicht echt“ zu einem besonderen Kniff: Sie präsentiert die unterschiedlichen Themenfelder in diversen Radioformaten wie Talk, Feature, Reportage und Kommentar. In diesen teilweise mehrseitigen Einspielern klärt sie plastisch und lesenswert über den ÖRR und die journalistische Arbeit auf, aber auch über Begriffe wie BIPoC und Othering:
Dieder: […]Wir sehen weiße Menschen als normal, während wir BIPoC …
Moderator: Den Begriff sollten wir kurz erklären.
Dieder (lacht kurz): Die Abkürzung steht für Black, Indigenous and People of Colour. Sie steht für eine Verbundenheit durch ähnliche Rassismuserfahrungen, die Schwarze und indigene Menschen machen. Der Begriff ist politisch, weil er selbstdefinierend und ermächtigend ist.“
Christine Lehmann: Alles nicht echt, S. 102 (hier das Beispiel des explorativen Interviews)
Politisches Buch über wichtige Fragen unserer Zeit
Dieses Zitat zeigt exemplarisch, wie breit Lehmanns Themenpalette in diesem Krimi ist. Sie geht in diesem Buch weit über den Komplex „Medien und Rechtspopulismus“ hinaus, sie schildert die aktuellen gesellschaftlichen Debatten in einer riesigen Bandbreite. Und sie zeigt die Wirklichkeit: Während sich bundesweit rechte Politiker mit Gender-Verboten profilieren und traditionellen Vorstellungen zu Geschlecht, Identität und Co. nachhängen, ist die Vielfalt in großstädtischen Milieus längst Realität. Das gilt zum Beispiel für das Hausprojekt, in dem Lisas neue Kollegin Kamila wohnt. Hier fühlt sich Lisa wohl – das dürfte Fans dieser Krimiserie nicht überraschen.
Apropos Fans: Diese werden den wortgewaltigen und belehrenden „Lisa-Nerz-Duktus“ (S.36) lieben, den die in Ich-Perspektive erzählende Protagonistin selbst so nennt. Lehmann schafft auch in „Alles nicht echt“ vielfältige Gelegenheiten, um Lisa in Fahrt zu bringen. Gegen übergriffige Chefs, Rechtspopulistinnen, Verkehrspolizisten und andere. Das Undercover-Setting bedingt aber, dass sich Lisa zumindest phasenweise zurückhalten muss: verständlich, aber etwas schade. Besonders lesenswert sind die im Argument Verlag mit Ariadne erscheinenden Lisa-Nerz-Krimis, wenn die unerschrockene Schwäbin ungehindert und durchgehend ihrem Unmut freien Lauf lassen kann!
Lehrreich ist dieses Buch allemal! Und für zusätzliche Spannung sorgt die Frage, wo „Alles nicht echt“ spielt. Das behalten Lisa und die Autorin für sich, weil ansonsten der ARD-Sender identifizierbar sei. Zugleich gibt Lehmann über die gesamte Handlung verteilt zahlreiche Hinweise. Das lädt zum Rätseln ein!
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Christine Lehmann: Alles nicht echt, 2024, Argument Verlag mit Ariadne (Taschenbuch), 336 Seiten
Weiterführende Lesetipps und Informationen:
- Ein hörenswertes Radio(!)interview mit Christine Lehmann zu „Alles nicht echt“ inklusive Lesepassage gibt es bei Radio Corax (Halle).
- Christine Lehmann engagiert sich in Stuttgart als Fahrradaktivistin – und vertritt diese Anliegen als grüne Kommunalpolitikerin im Stuttgarter Stadtrat. Auf ihrem Fahrradblog veröffentlicht sie viele Beiträge zu diesem Thema.
- Die Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ hat sich 2023 in einer kompletten Ausgabe mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk befasst. Frei verfügbar!
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