Christine Lehmann: Die zweite Welt

Christine Lehmann: Die zweite Welt

Eine rechtspopulistische Partei, welche die Stimmung anheizt? Hass in den sozialen Netzwerken? Misogynie als zentraler Bestandteil der reaktionären Aufwallung? All das beschreibt Christine Lehmann in „Die zweite Welt“ – im momentan jüngsten Fall der beliebten Lisa-Nerz-Krimireihe. Der 2019 erschienene Schwaben-Krimi ist aktueller denn je!

Mit Lisa Nerz hat die Stuttgarter Autorin Christine Lehmann eine eindrucksvolle Figur geschaffen: Die Reporterin ist laut, neugierig, offen bisexuell und durch und durch schwäbisch. Der Begriff Schwaben-Krimi oder besser gesagt Schwäbinnen-Krimi bietet sich deshalb an, wenngleich die Lisa-Nerz-Reihe weitaus lesenswerter als viele typische Regionalkrimis ist. Wie bei allen Büchern des Argument Verlags mit ariadne erwartet die interessierte Leserschaft ein Krimi mit politischem Anspruch!

Politischer Krimi: Feminismus und militanter Frauenhass

In „Die zweite Welt“ entwirft die Krimiautorin und Stuttgarter Grünen-Stadträtin Christine Lehmann eine hochgradig politische Geschichte: Sie bugsiert die Journalistin Lisa Nerz in eine dramatische Szenerie am Frauentag und damit unmittelbar in die Auseinandersetzungen unserer Zeit. Am 08. März fordern Frauen weltweit Gleichberechtigung – nicht jedem gefällt das. In diesem Krimi zeigt sich exemplarisch, wie gefährlich die reaktionäre Gegenbewegung zur Emanzipation ist: Ein anonymer Anrufer bedroht die Frauentagsdemo mit einem Attentat.

Unrealistisch? Nein, realistisch. Misogynie tötet. So fielen einige rechte Attentäter in den letzten Jahren mit einem frauenfeindlichen Weltbild auf, auch wenn sich ihre Gewalt nicht unmittelbar gegen die Frauenbewegung im Speziellen und Frauen im Allgemeinen richtete. In der öffentlichen Debatte geht diese Facette häufig unter. Dabei verdient sie wie beim Attentäter von Halle einen genauen Blick, der Antifeminismus ist ein „wiederkehrendes Motiv des globalen Rechtsterrorismus“ (Amadeu-Antonio-Stiftung). Die im Internet entstandene Subkultur der frauenhassenden Incels wird zunehmend zur Gefahr im Real Life – Lisa Nerz setzt sich in ihrem aktuellen Fall damit auseinander.

Mit Wucht: Nerz ermittelt in „Die zweite Welt“ unter Hochdruck

Am Frauentag geht beim SWR am frühen Morgen ein Drohanruf ein: Der Anrufer kündigt an, die Frauentagsdemo am Abend in ein Blutbad zu verwandeln. Lisas Freundin Sally nimmt diesen Anruf entgegen und leitet diese Neuigkeit sofort weiter: Die Hauptfigur dieser Reihe ist unmittelbar on fire. Lisa Nerz und dem mit ihr befreundeten Staatsanwalt Richard verbleiben nur wenige Stunden, um diesen Anschlag zu verhindern. Zugleich heizt die „Partei des Gesunden Menschenverstands“ die öffentliche Stimmung weiter an – unschwer zu erkennen, dass Christine Lehmann auf die AfD anspielt.

Lisa nimmt den Wettlauf gegen die Zeit auf, minutiös von Lehmann beschrieben. Der Krimi spielt ausschließlich am 08. März, die einzelnen Kapitel sind mit der jeweiligen Uhrzeit betitelt. Von 06:23 bis 22:21: Die Hauptfigur lässt ihrer Wut gegen die „autoritätsfixierten Empörungspolemiker“ (S. 61) und „Pluralitätsschisser“ (S. 187) freien Lauf und sucht unerschrocken nach dem potenziellen Attentäter.

Dieses Mal wird sie von ihrer Nachbarin Tuana begleitet. Die junge Muslima sorgt sich um ihre beste Freundin. Sie befürchtet, dass die Eltern diese zwangsverheiraten wollen. Um dieses Problem kümmert sich Lisa nebenbei. Lehmannn fügt mit der Nebenhandlung geschickt eine weitere Facette des modernen Feminismus ein. Lisa und Tuana setzen sich beide auf ihre Weise für Frauenrechte ein, dennoch trennen sie Welten. Religion? Für Lisa keine Option.

Lisa bezieht Tuana in ihre Ermittlungen ein, sie kann die IT-Kenntnisse ihrer jungen Nachbarin gebrauchen. Das ungleiche Paar rast durch Stuttgart, Lisa nutzt ihre vielen Verbindungen als feministische Aktivistin und Journalistin. Die Taktik des wuchtigen Auftritts, für den die Hauptfigur bekannt ist, stößt in Zeiten wie diesen aber an Grenzen:

In den neuen Zeiten vulgärer Provokationsrhetorik war das Nerz’sche Konzept der Verblüffung durch eben diese sinnlos geworden.

Christine Lehmann: Die zweite Welt, S. 112

Unterhaltsamer Krimi mit kleinen Schwächen

Dieser in der Ich-Perspektive geschriebene Nerz-Krimi besticht durch seinen dramatischen Aufbau und die Sprachgewalt der Protagonistin. Lisa Nerz – die Endgegnerin aller Reaktionäre! Christine Lehmann gelingt es auch, lesenswert die Geschichte und Gegenwart des Feminismus darzustellen. So lässt sie ihre Hauptfigur prägnant die Entwicklung der emanzipatorischen Bewegung nachzeichnen, mit einem bitteren Fazit:

Die finsteren Strukturen patriarchaler Herrschaft hatten den Feminismus völlig unbeschadet überstanden, waren fester gefügt denn je, erneuerten sich sogar und benutzten dazu willige Frauen.

Christine Lehmann: Die zweite Welt, S. 83

Dieses Buch unterhält und informiert gleichermaßen. Einen Punkteabzug gibt es aber für die Krimihandlung. Zu viele Zufälle und manche unlogische Schlussfolgerung prägen diesen Lisa-Nerz-Fall. Ein Krimitipp ist „Die zweite Welt“ von Christine Lehmann trotzdem – gerade in Zeiten wie diesen!

„Die zweite Welt“ bei Thalia kaufen. Oder in der lokalen Buchhandlung bestellen.

Diese Rezenzion basiert auf folgender Ausgabe:

Christine Lehmann: Die zweite Welt, 2019, Argument Verlag mit ariadne (Taschenbuch), 256 Seiten

Weiterführende Lesetipps:

Mit dem Phänomen der fauenhassenden Online-Subkulturen befasst sich die Amadeu-Antonio-Stiftung in einer umfangreichen Broschüre, die Interessierte hier als pdf-Dokument herunterladen können.