Schünemann & Volić: Maiglöckchenweiß
Serbien? Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine richtet sich der mediale Fokus wieder verstärkt auf dieses besondere Land, in welchem die Putin-Begeisterung auffällig hoch ist. Zugleich strebt das Land nach der EU-Mitgliedschaft, was dazu führt, dass die Regierung Signale in unterschiedliche Richtungen aussendet. Serbien? Was wissen wir eigentlich über dieses Land?
Der Griff zu entsprechenden Sachbüchern ist eine Möglichkeit, um sich über dieses Land zu informieren. Eine andere Option: die unterschätzte Milena-Lukin-Krimireihe von Christian Schünemann und Jelena Volić, die zwischen 2013 und 2017 im Diogenes Verlag erschienen ist. Die drei Teile dieser Serie bieten tiefe Einblicke in die politische und gesellschaftliche Verfasstheit Serbiens. So viel vorab: Diese Einblicke lassen einen erschaudern.
Das Duo Christian Schünemann und Jelena Volić ergänzt sich perfekt: Schünemann studierte unter anderem in St. Petersburg Slawistik und arbeitete in Bosnien-Herzegowina, die gebürtige Belgraderin Volić engagiert sich in diversen Zusammenhängen für die deutsch-serbischen Beziehungen und den EU-Integrationsprozess. Beide verfügen über eine beeindruckende Expertise, die sie in die Bände „Kornblumenblau“ (Werbe-Link zu Thalia)1, „Pfingstrosenrot“ und „Maiglöckchenweiß“ einfließen lassen.
Ein altes Tötungsdelikt, ein neuer Todesfall – und das Attentat auf den Ministerpräsidenten
Im dritten und bisher letzten Teil dieser Serie lässt das Duo die sympathische Hauptfigur Milena Lukin in die Vergangenheit eintauchen. Auslöser ist die Gegenwart: Nach einer 25 Jahre andauernden Flucht vor der Polizei kehrt ein Mann nach Belgrad zurück und will sich seiner Vergangenheit stellen. Zusammen mit einem Freund hatte er in jugendlichem Alter den zehnjährigen Roma-Jungen Dušan getötet. Kurz darauf ist der Heimkehrer tot.
Milena Lukin versucht derweil, sich in ihrer neuen Doppelrolle einzufinden: Zusätzlich zu ihrem Job am Institut für Kriminalistik und Kriminologie arbeitet die Expertin für internationales Strafrecht nun in der deutschen Botschaft, um die EU-Integration Serbiens zu beschleunigen. Milena ist mit ihrem Fachwissen und ihrem langen Aufenthalt in Deutschland optimal dafür geeignet.
In den Fall schlittert sie über den befreundeten Anwalt Siniša, der den Rückkehrer vertritt. Nach dem Tod seines Mandanten taucht Milena in die Recherche ein. Wer könnte den damaligen Täter ermordet haben? Der offensichtliche Unwille der Behörden, diesen Fall aufzuklären, erregt zusätzlich ihre Neugier. Die Ermittlungen kosten Zeit und Kraft – angesichts der Arbeitsbelastung eine Herausforderung.
Erschwerend kommt hinzu, dass ihr Ex-Mann Philip mit seiner neuen Freundin aus Deutschland anreist. Aufgrund des gemeinsamen Sohnes ist Milena verpflichtet, diesen Besuch in ihren Alltag einzubinden. Und muss unter anderem die politischen Konflikte zwischen Philip und ihrer Mutter Vera aushalten. Ihr Ex-Mann kritisiert, dass Vera seinen Sohn mit Tito-Verherrlichung indoktriniert:
Kriegst du eigentlich gar nicht mit, was er teilweise so vom Stapel lässt? Diese Tito-Verehrung, zum Beispiel, das ist doch O-Ton Vera: ‚Tito, unser Held. Wir müssen dankbar sein für alles, was er getan hat.‘ Das ist haarsträubend, dieses Schwarz-Weiß-Denken.
Christian Schünemann und Jelena Volić: Maiglöckchenweiß, S. 241
Antiziganismus in Serbien und alte Seilschaften
Ein toter Roma-Junge vor 25 Jahren: Dieser Ermittlungsansatz führt Milena in diese prekär lebende Community. Das Duo Schünemann und Volić schildert eindrücklich die katastrophale Lage der Minderheit, die unter erschreckenden Bedingungen lebt und unter massiver Diskriminierung leidet. Nur wenige schaffen es aus der Armut heraus.
Zu diesen wenigen zählt eine US-Amerikanerin aus New York City, die wie der Ermordete ebenfalls nach Belgrad zurückkehrt. Auch sie ist in das alte Tötungsdelikt involviert. Viele weitere interessante Figuren bereichern diese Geschichte. So spielen der damals verurteilte Täter und ein alter Ex-Geheimdienstchef wichtige Rollen.
Mögliche Verdächtige gibt es viele. Während der Ermittlungen sieht sich Milena zudem mit einer Verbindung zum Attentat auf den EU-freundlichen Ministerpräsidenten Zoran Đinđić im Jahr 2003 konfrontiert. Das verweist unmittelbar auf alte Seilschaften, die im Hintergrund die Strippen ziehen.
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Fundierte Analyse der gesellschaftlichen und politischen Situation Serbiens
Auf meinem Blog stelle ich gut geschriebene Krimis mit gesellschaftlicher und politischer Relevanz vor: „Maiglöckchenweiß“ erfüllt diese Kriterien überzeugend! Meines Erachtens fiel die damalige Resonanz auf alle drei Bücher der Reihe zu mau aus. Wer sich mit einem spannenden Krimi über die Gesellschaft Serbiens informieren will, trifft mit „Maiglöckchenweiß“ und Co. die richtige Wahl. Zugleich kann sich nach der Lektüre dieses Bands niemand mehr wundern, warum so viele Roma gen Westen migrieren.
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„Maiglöckchenweiß“ von Christian Schünemann und Jelena Volić bei Thalia kaufen2. Oder in der lokalen Buchhandlung.
Diese Krimirezension basiert auf folgender Ausgabe:
Christian Schünemann / Jelena Volić: Maiglöckchenweiß. Ein Fall für Milena Lukin, 2017, Diogenes Verlag (Hardcover), 352 Seiten
Weiterführende Lesetipps und Informationen:
- Nach der Lektüre dieses Milena-Lukin-Krimis bietet es sich an, sich näher mit dem Thema Antiziganismus in Serbien und auf dem Balkan zu beschäftigen. Einen kompakten Überblick gibt es im Artikel „Die größte Minderheit in Europa“ – erschienen in der 2011 veröffentlichten Ausgabe „Sinti und Roma“ der Zeitschrift „Aus Politik und Geschichte“.
- Zum Spannungsverhältnis zwischen EU-Integration und Russlandfreundlichkeit sowie zum autoritären Kurs der Regierung in Belgrad ein lesenswertes Interview mit Dragana Rakić, die für die Demokratische Partei im Parlament sitzt. Veröffentlicht auf der Homepage des IPG Journal 2022.