Ahmet Ümit: Patasana – Mord am Euphrat

Ahmet Ümit: Patasana – Mord am Euphrat

Der türkische Krimiautor Ahmet Ümit wagt sich an brisante Themen, das beweist er in seinem Buch „Patasana – Mord am Euphrat“ in faszinierender Weise. Völkermord an den Armeniern, die kurdische Frage, islamische Fundamentalisten: Alle diese Themen sind in der Türkei umstritten oder gar tabuisiert. Den ehemaligen Untergrundkämpfer schreckt das nicht ab.

Ahmet Ümit beeindruckt mit einer erstaunlichen Biografie: Bereits mit 14 engagierte er sich für die Türkische Kommunistische Partei, nach dem Militärputsch 1980 kämpfte er im Verborgenen. In den 1980ern studierte er zudem in Moskau – ein parteitreuer Kommunist. Später wandte er sich von den Parteidogmen ab und der Literatur zu. Aus seiner Feder stammen mehrere Romane – und Krimis! Das ist keine Selbstverständlichkeit: Die Türkei ist ein Land ohne etablierte Kriminalliteratur. Türkische Krimis mit Anspruch? Diese gibt es erst dank weniger Pioniere wie Ahmet Ümit und Cecil Oker! Ümits Erfolg hält bis heute an: Gestern veröffentlichte der btb-Verlag sein neues Buch “Das Land der verlorenen Götter” (Link zu Thalia)1, das in Berlin und der Türkei spielt.

In dieser Rezension geht es aber um seinen 2000 erschienenen Krimi „Patasana – Mord am Euphrat“, der wesentlich zu seinem Ruf als populärster türkischer Krimischriftsteller beigetragen hat. In Deutschland musste er aber auf seinen Durchbruch warten, dieses Werk erschien erst 2009 in deutscher Übersetzung im Berliner Dağyeli Verlag. 2013 veröffentlichte der Schweizer Unionsverlag diese lesenswerte Geschichte. Warum so spät? Der Grund kann nur in Ignoranz liegen! Dieses Buch über ein Team an Archäologen und die Geschichte der Hethiter ist literarisch hochwertig und zeichnet die politische Lage der Türkei präzise nach.

Geschickt verknüpft: Mordfälle in der Jetztzeit und Untergang der Hethiter

In “Patasana – Mord am Euphrat” wechselt Ümit kapitelweise zwischen zwei Zeitebenen: In der Jetztzeit begleitet er ein Archäologenteam, das im türkischen Südosten nahe der Großstadt Gaziantep eine Ausgrabung durchführt. An dieser historischen Stätte, die unmittelbar am Euphrat und der türkisch-syrischen Grenze gelegen ist, stoßen die Wissenschaftler auf Nachlässe der Hethiter. Hierbei handelt es sich um ein Volk, das im 2. Jahrtausend vor Christi über eine große Macht verfügte. Die Forscher freuen sich über eine sensationelle Entdeckung: Sie graben die Tafeln des fiktiven Hofschreibers Patasana aus.

Hier erfolgt die naheliegende und dennoch kluge Verknüpfung: Jedes zweite Kapitel des Krimis gibt den Inhalt einer dieser 28 Tafeln wieder. Patasana beschreibt auf ihnen den Niedergang des späthethitischen Reichs und sein eigenes Schicksal. Ümit bugsiert uns in den Zeitraum um etwa 700 v. Christi. Das großhethitische Reich war damals längst zerschlagen, es existierten nur noch kleinere Inseln wie die antike Stadt Karkemiš im heutigen türkischen Landkreis Karkamış. Patasana muss mitansehen, wie der unfähige und größenwahnsinnige König Pisiri das Königreich ins Unglück führt. Das Assyrische Reich wird es annektieren – der Untergang.

Die aus Istanbul stammende Leiterin des Ausgrabungsteams, Esra, ist in heller Aufregung: Dasselbe gilt für ihr Team aus türkischen, deutschen und US-amerikanischen Wissenschaftlern. Diese Tafeln sind das erste Dokument der inoffiziellen Geschichtsschreibung: Mit den Tafeln von Patasana machen sie einen international bedeutenden Fund.

Die Schilderungen Patasanas sind spannend, aber auch die Jetztzeit bietet dramatische Entwicklungen. Jemand stößt den örtlich geschätzten Prediger von der Moschee. Ein Dorfschützer wird erschossen: Ein Passant findet ihn mit seinem Kopf im Schoß. Gelten diese Morde dem Team um Esra?

Ausgrabungen in politisch angespanntem Umfeld

Wer steckt hinter diesen Ereignissen? Und: Müssen die Archäologen die Ausgrabungen abbrechen, weil der “Aberglaube von Analphabeten” (Esra, S. 13) siegt und die örtliche Bevölkerung die Ereignisse mit dem Fluch des Schwarzen Grabes in Verbindung bringt? Die Anzahl an Verdächtigen ist groß, die politische Lage spielt eine zentrale Rolle. Esra verdächtigt die religiösen Fundamentalisten in der Region, welche der Ausgrabung feindlich gegenüberstehen. Es war der allseits beliebte Prediger Haci Settar, der sich für Esra und ihr Team einsetzte.

Der Hauptmann Eşref ist dagegen in seiner Rolle gefangen: Für ihn ist sogleich klar, dass die Separatisten (PKK) dahinterstecken müssen. Seine Argumentation: Die Guerilla will Unruhe und Anarchie stiften.

Oder hängen die Morde mit der Vertreibung der Armenier zusammen? Es finden sich auffällige Parallelen zu lange zurückliegenden Tötungsdelikten. Will jemand die Armenier rächen?

Nahezu erleichtert reagieren Esra und Co., als darüber hinaus auch ein Verdächtigter mit rein persönlichem Motiv auftaucht. Ist es ein Mord aus Eifersucht, der keinerlei Auswirkungen auf die Ausgrabungen hat?

Realistische Schilderung der politischen Lage

Mir gefällt an “Patasana – Mord am Euhprat”, dass der Autor mit leichter Hand die komplexe türkische Politik und Gesellschaft schildert. Das Buch ist zweifelsohne ein unterhaltsam geschriebener Krimi – keine trockene Abhandlung. Aber es handelt sich um einen Krimi, der bis in die Details hinein umfassend informiert. Völkermord, PKK, Dorfschützer, Islamismus, Hizbullah – Ümit bringt in diesem Krimi zahlreiche Themen unter.

Hierbei setzt Ümit auf die realistische Beschreibung – er lässt unterschiedliche Meinungen und Welten aufeinanderprallen. Der Hauptmann Eşref repräsentiert den türkischen Staat und den türkischen Mainstream. Völkermord an den Armeniern? Eşref meint:

Die Ereignisse waren nicht gewollt. Sie entstanden wegen einiger Gewaltausbrüche. Die wahren Verantwortlichen der Ereignisse von damals sind diejenigen, die die Armenier anstachelten […], also die Russen, die Engländer, Franzosen und Amerikaner.

Ahmet Ümit: Patasana – Mord am Euphrat, S. 341

Dies äußert er in einem Streitgespräch mit dem deutschen Archäologen Bernd, der eine Freundin mit armenischem Hintergrund hat. Bernd spricht das Thema Genozid immer wieder erregt an, im Disput mit Eşref beklagt er den fehlenden Willen der historischen Auseinandersetzung und zieht eine Verbindung in die Gegenwart:

Wenn Sie sich sorgfältig mit Ihrer eigenen Geschichte beschäftigen, können Sie auch das Kurdenproblem lösen.”

Ahmet Ümit: Patasana – Mord am Euphrat, S. 341

Esra will sich derweil nicht positionieren: “Was interessieren uns Armenier und Kurden?” Sie tendiert zur typischen türkischen Lesart, interessiert sich aber vornehmlich für Frieden im Team.

Auch bei der kurdischen Frage ist es Eşref, der die Staatsräson und die weit verbreitete Haltung in der Gesellschaft darlegt. Die Separatisten sind Aufwiegler – ein reines Sicherheitsproblem.

Norbert Mecklenburg missfällt diese Herangehensweise in seiner Rezension auf der Seite Literaturkritik. Er argumentiert, dass Esra und Eşref als sympathisch gezeichnete Figuren die türkische Mainstream-Sicht darstellen und unsympathisch gezeichnete Figuren wie Bernd widersprechen. Dadurch erhalte die Thematik eine “armenophobe Schlagseite” – nach dem Motto: Die Sympathieträger beeinflussen die Leser. Zudem hält der Rezensent die Patasana-Geschichte für eine schiefe Parabel, die den Armeniern eine Mitschuld zuschiebe.

Ich kann dem nicht folgen.

Erstens ist es realitätsnah, dass die türkischen Figuren der verbreiteten geschichtlichen Einordnung in der Türkei folgen. Genauso realitätsnah ist es, dass ein Ausländer dies infrage stellt. Ich sehe auch nicht, dass Ümit Bernd als unsympathische Figur angelegt hat. Bernd empört sich zwar häufig: Aber das ist angesichts seiner Vorwürfe verständlich. Darüber hinaus ist Ümit grundsätzlich anzurechnen, dass er sich in einem populären Buch überhaupt an diese Thematik wagt.

Zweitens, in der Tat: Es spricht viel dafür, dass der Autor die Patasana-Geschichte vom Untergang der Hethiter als Parabel verwendet. Das geht mit gewissen Problematiken einher, hier gebe ich dem Rezensenten recht. Die Hethiter haben das Unheil heraufbeschworen, das liest sich oberflächlich betrachtet wie eine Rechtfertigung des anschließenden Agierens der Assyrer. Nur: Ümit schildert das assyrische Vorgehen in aller Brutalität, ohne es zu rechtfertigen.

Drittens: Der Autor flicht an verschiedenen Stellen Kritik am türkischen Staat ein. Als Eşref den kurdischen und lebensfrohen Koch Halaf befragt, verdüstert sich die Szenerie. Halaf hat offenkundig Angst vor den staatlichen Autoritäten: Ein deutlicher Hinweis auf das repressive Agieren der türkischen Behörden und des Militärs gegenüber der kurdischen Bevölkerung. Mit solchen Schilderungen hinterfragt Ümit den Ist-Zustand – ich halte das für eine deutliche Kritik am Status quo und nicht etwa für “überaus vorsichtig, ja fast ängstlich” formuliert, wie Mecklenburg meint.

Türkei und Karkamış: Wie sind die politischen Verhältnisse heute?

Ahmet Ümit schildert in seinem Krimi die politische Situation kurz vor dem Jahrtausendwechsel. Seitdem hat sich die Lage in der türkischen Politik erheblich gewandelt. Lange Zeit vom politischen Chaos geprägt, regieren seit 2002 Erdogan und seine AKP-Partei. Der Kurs gegenüber der kurdischen Minderheit hat sich seit dem Erscheinen des Romans mehrfach geändert: Zuerst setzte Erdogan auf eine Annäherung, es gab sogar Verhandlungen mit dem inhaftierten PKK-Führer Öcalan. Mit dem Krieg in Syrien und den Wahlerfolgen der pro-kurdischen und linken HDP kam es aber zu einem scharfen Kurswechsel. Seitdem setzt Erdogan auf ein Bündnis mit der rechtsextremen MHP und dem nationalistischen Lager. Mittlerweile kooperiert Erdogan sogar mit der Partei Hüda Par, die der im Roman erwähnten Hizbullah nahesteht – diese Islamisten sind die Erzfeinde linker Kurden.

Der Handlungsort von “Patasana – Mord am Euphrat” liegt im türkischen Südosten. Unmittelbar an der Grenze zu Syrien gelegen, suchten zahlreiche syrische Bürgerkriegsflüchtlinge dort Zuflucht. Die Kurden bilden im Gegensatz zu anderen Teilen des Südostens eine Minderheit, das belegen die Wahlresultate. Wo es viele Kurden gibt, ist auch die HDP bzw. die Nachfolgepartei Yeşil Sol Parti stark: Auf diese einfache Formel lässt sich das herunterbrechen. In der gesamten Region Gaziantep erhielt die YSP bei den letzten Parlamentswahlen 9,1 % – am Handlungsort des Krimis im Landkreis Karkamış noch deutlich weniger. Das Ergebnis in Karkamış bei den Parlamentswahlen 2023 lautete:

  • AKP: 36 %
  • MHP: 16 %
  • CHP: 28 %
  • IYI: 11 %
  • YSP: 2 %

Angesichts dieses niedrigen Ergebnisses für die YSP wundert es nicht, dass auch Hauptmann Eşref eine geringe Verankerung der pro-kurdischen Bewegung feststellt. Nur einen kurdischen Stamm in der Gegend verdächtigt er entsprechender Sympathien.

Karkamış und Gaziantep befinden in der Nähe der pro-kurdischen Hochburgen, sind aber eine Festung der islamisch-nationalistischen Symbiose: Das zeigt das hohe Ergebnis für die MHP eindrucksvoll. Andererseits schneidet in Karkamış auch die sozialdemokratisch-kemalistische CHP vergleichsweise gut ab. Hier fragt sich: Liegt das an den Einwohnern oder an den im Grenzgebiet stationierten Soldaten? Der aus Istanbul stammende und säkular geprägte Eşref wäre ein klassisches Beispiel für einen aus beruflichen Gründen zugezogenen CHP-Wähler in diesem konservativen Umfeld.

“Patasana – Mord am Euphrat”: Lektüre mit Erkenntnisgewinn

Meine Rezension ufert nahezu aus, dabei hätte ich noch so manches schreiben wollen. Das beweist, wie inhaltsreich dieser türkische Krimi ist. Deshalb zum Schluss nur kurz:

“Patasana – Mord am Euphrat” von Ahmet Ümit bei Thalia kaufen.2 Oder in der örtlichen Buchhandlung.

Diese Rezension basiert auf folgender Ausgabe:

Ahmet Ümit: Patasana – Mord am Euphrat, 2013, Unionsverlag (Taschenbuch), 416 Seiten

Weiterführende Informationen und Lesetipps:

Das Hethtitologie-Portal Mainz bietet einen spannenden Überblick über die Geschichte des Volkes und die Geschichte der Ausgrabungen. Als Einstieg empfiehlt sich der Artikel “Die Wiederentdeckung der Hethiter”.

Zahlreiche interessante Artikel zum Völkermord an den Armeniern und zum Umgang mit diesem Thema in der Türkei finden sich in einem Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung.

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