David Joy: Wenn diese Berge brennen

David Joy: Wenn diese Berge brennen

Seit vielen Jahren leiden die USA unter einer Drogenepidemie, Wikipedia widmet der Opiodkrise einen eigenen Artikel. Erstaunlich: Besonders in ländlichen und kleinstädtischen Regionen greifen zahlreiche Menschen zu riskanten Drogen, von Fentanyl über Heroin bis zu Meth. Dieser Problematik widmet sich der US-amerikanische Krimiautor David Joy in seinem 2020 im Original erschienenen „When the Mountain Burn“, im Frühjahr 2024 vom Polar Verlag in übersetzter Version veröffentlicht. Der kleine Krimiverlag aus Stuttgart hatte 2018 mit „Wo alle Lichter enden“(Werbelink)1 bereits ein weiteres Werk dieses Schriftstellers präsentiert.

Die Verantwortlichen des Polar Verlags beweisen erneut ein hervorragendes Gespür für gut geschriebene Kriminalromane mit gesellschaftlicher Relevanz. Und: Dieses Jahr zeichnen sie sich durch eine besonders geschickte Auswahl aus. Mit „Wenn diese Berge brennen“ erhalten wir einen tiefen Einblick in das ländliche North Carolina, mit dem vor kurzem veröffentlichten „Bad Axe County“ von John Galligan in das ländliche Wisconsin. Warum gutes Timing? Bei beiden Staaten handelt es sich um wichtige Swing States, welche die US-Präsidentschaftswahl entscheiden können.

Leah, diesen orangen Quatschkopf will ich wirklich nicht hören.

David Joy: Wenn diese Berge brennen, S. 256

Das lässt David Joy seine Hauptfigur Raymond sagen. Eine Ansage, die ich teile. Momentan sind auch deutschsprachige Medien wieder voller Trump-Zitate, Blödsinn reiht sich an die nächste Entgleisung. Erkenntnisgewinn? Null. Greifen wir lieber zu hochwertiger Kriminalliteratur aus den USA, der Polar Verlag versorgt uns zuverlässig!

Raymonds Melancholie: Seine Welt geht unter

Der Westen North Carolinas, unweit von Georgia und Tennessee: dünn besiedelt, weitläufige Wälder, die Berge der Appalachen, der Tuckaseegee River – und Drogen, viele Drogen. Das erfährt der heimatverbundene Raymond, ehemaliger Holzarbeiter, in der eigenen Familie. Seine geliebte Frau ist vor wenigen Jahren an Krebs gestorben, sein Sohn Ricky ist das einzig verbliebene Familienmitglied. Tief im Drogensumpf versackt, bringt er dem melancholischen Raymond zusätzliches Leid. Und Ärger.


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Derweil brennt der Wald. Brände zerstören riesige Waldflächen, apokalyptische Zustände. North Carolina verändert sich rasant, Raymonds Welt löst sich zunehmend auf. Die Wälder brennen, die Einheimischen verfallen den Drogen, Industriebetriebe sind längst stillgelegt, dafür fluten Touristen die Region und Großstädter kaufen sich Ferienhäuser. Das dort angesiedelte Reservat der Cherokee ermöglicht Selbstbestimmung, die indigene Bevölkerung hat weitgehende Rechte: Doch auch hier machen sich Drogensucht und Drogenhandel breit, durch neu eröffnete Casinos ist das Reservat zudem ein Eldorado für das Glücksspiel. Weit weg von jedweder Tradition. Ob indigen oder weiß, eine Schicksalsgemeinschaft: North Carolinas Idylle im Umbruch, den viele als Niedergang und manche als Möglichkeit des Geldverdienens betrachten.

Ein Vater, sein drogenabhängiger Sohn und die Machtlosigkeit

Raymond weiß, dass er nichts für seinen erwachsenen Sohn machen kann. So realistisch ist er. Im Grunde ist er froh, wenn er ihn nicht sehen muss. Aber der Heroinabhängige kehrt immer wieder heim, wenn er Geld braucht, wenn er in Schwierigkeiten ist.

Auch dieses Mal befindet sich Ricky in Schwierigkeiten, er kehrt aber nicht heim. Es ist noch schlimmer. Ein fremder Mann kontaktiert Raymond:

Ich rufe aus Höflichkeit an, Mr. Mathis. Ich lasse Ihnen die Wahl. Zahlen Sie mir, was mir zusteht, oder beerdigen Sie Ihren Sohn.

David Joy: Wenn diese Berge brennen, S. 17

Der Fremde hält Ricky gefangen, Raymond wird ihn nicht seinem Schicksal überlassen. So viel sei verraten. Es geht dem gutmütigen Raymond aber nicht nur um seinen Sohn, er will ein Zeichen setzen. Er stemmt sich gegen die Drogenepidemie und damit gegen den Niedergang, ein Aufbäumen des alten North Carolinas gegen die vielfältigen Änderungen zum Negativen. Er nimmt die Sache selbst in die Hand. So wie sie es früher geregelt haben. Sagt er der Polizistin Leah, die er seit langem kennt, er war eng mit ihrem Vater befreundet. Leah widerspricht, Raymond lässt sich nicht aufhalten. Der gutmütige, kräftig gebaute Riese – eine Urgewalt!

„Heutzutage wissen die Leute doch gar nicht mehr, warum jemand wie ich oder dein Daddy, unsere Generation und die Generation unserer Eltern, überhaupt keine Polizei gebraucht haben. Für die sind Sachen, die früher üblich waren, wenn zum Beispiel jemand verschwand oder ein Haus abbrannte, gesetzlos. Aber daran war nichts gesetzlos, ganz im Gegenteil. In den Bergen herrschte eine eigene Art Ordnung.“

David Joy: Wenn diese Berge brennen, S. 118

Drogenpolizei, Drogenabhängige und Dealer

Raymond ist zweifelsohne die Hauptfigur in diesem North-Carolina-Krimi. Wir begleiten aber auch viele weitere Personen, insgesamt ergibt sich ein eindrucksvolles Figurenkabinett.

Dazu zählen die Polizisten Holland und Rodriguez, die für die Drogenpolizei arbeiten. Holland leitet die Ermittlungen, Rodriguez agiert undercover. Holland ist sich den Grenzen seiner Arbeit bewusst, er neigt zum Zynismus. Und zum Realitätssinn, wenn er beispielsweise bei einem reichen Weißen anprangert, dass er dank guten Anwälten nichts zu befürchten habe. Rodriguez leidet derweil an seiner Undercover-Tätigkeit, die an den Nerven zehrt.


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Zugleich profitiert Rodriguez von Donald Trump, er bewegt sich sicher im Drogenmilieu:

Wegen des tobenden Blödsinns mit dem Mauerbau an der Grenze zu Mexiko und der Behauptung des orangehaarigen Geblökführers, dass alle Männer, die aussehen wie Rodriguez, Drogendealer und Vergewaltiger waren, kam niemand auf so eine Idee. Er konnte überhaupt kein Cop sein. Dass er Latino war, machte seine Arbeit viel einfacher.

David Joy: Wenn diese Berge brennen, S. 72 f.

Ein besonders Lob verdient David Joy für die facettenreiche Figurenzeichnung der Drogenabhängigen. So beschreibt er den indigenen Denny Rattler als reflektierten Abhängigen, der nach einem Schicksalsschlag mit Drogen in Berührung kam. Und dessen Schwester darunter leidet. Raymonds Sohn bildet den scharfen Kontrast, er befindet sich längst in der unaufhaltsamen Abwärtsspirale, jede Hoffnung für das mitleidende Umfeld vergebens. Umfeld? Das besteht nur noch aus seinem Vater, alles andere sind Drogenbekanntschaften. Und die Dealer? Sie betrachten das Drogengeschäft als Business, ohne Gewissen.

Wenn diese Berge brennen: David Joys Liebe zur Provinz North Carolinas

Ländliche Gegenden in den USA verbinden wir heute meist mit Rednecks und Donald-Trump-Wählern. In den beiden Handlungsorten von „Wenn die Berge brennen” hat Trump 2016 und 2020 tatsächlich die Mehrheit gewonnen: Im Swain County erhielt er bei der letzten Wahl knapp 59 %, im Jackson County war es mit 53 % zu 45 % aber vergleichsweise knapp. Das zeigt exemplarisch: Es verbietet sich, alles über einen Kamm zu scheren. Die Welt ist komplex, auch in diesen dünn besiedelten Landstrichen.


Besucht auch meinen Blog “Hoffnung, doch. Einblicke in den anderen Osten”. Vor der Landtagswahl in Sachsen habe ich zum Beispiel den grünen Direktkandidaten für die Dresdner Neustadt porträtiert. Den Wahlkreis hat er wenige Tage später gewonnen.


Diese Komplexität zu beschreiben und gegen Vorurteile anzuschreiben, das scheint David Joy ein wesentliches Anliegen zu sein. Mit seinem Hang zur Selbstjustiz und seiner Sehnsucht nach der alten Welt mag Raymond in das Raster des typischen Trump-Wählers passen, aber Joy zeichnet ihn als Anti-Trump. Für die Waldbrände macht der ehemalige Holzarbeiter die Vernachlässigung der Wälder verantwortlich, für die indigene Bevölkerung empfindet er Empathie. Raymond sieht mit Erschrecken die Veränderungen in seiner kleinen, lange Zeit behüteten Welt. Er lässt sich aber nicht vom Trump-Populismus locken, der Hass ist ihm fremd, mit Melancholie nimmt er es hin.

Apropos Trump: David Joy beschreibt zu Beginn dieses herausragenden Kriminalromans eine Ansammlung von Wohnwagen, in denen Dealer ihrer Arbeit nachgehen: „Chrystal gabs in dem mit einer Trump-Fahne statt eines Vorhangs.“ (S. 31) Der Autor streut an mehreren Stellen Spitzen gegen den „orangen Quatschkopf“ ein – in wenigen Wochen wissen wir, wie Joys Heimatstaat North Carolina abstimmt. Momentan sieht in diesem Swing State alles nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen aus. Wem David Joy die Daumen drückt, ahnen wir nach der Lektüre von “Wenn diese Berge brennen”.


Diese Krimirezension basiert auf folgender Ausgabe:

David Joy: Wenn diese Berge brennen, 2004, Polar Verlag (Taschenbuch), 288 Seiten

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