Thomas Mullen: Die Stadt am Ende der Welt

Thomas Mullen: Die Stadt am Ende der Welt

Die Corona-Pandemie hat uns schlagartig ins Bewusstsein gerufen, wie verheerend bisher unbekannte Viren wüten können. Unsere Gesellschaft war erstaunlich schlecht darauf vorbereitet, obwohl es mit der Spanischen Grippe ein historisches Vorbild gibt. Aus der Geschichte lernen: Im Gesundheitsschutz galt dieser Anspruch offenbar nicht.

Das lag auch daran, weil sich zu wenig Wissenschaftler, Schriftstellerinnen und Journalisten mit diesem Thema befasst haben. Löbliche Ausnahme: Der US-Autor Thomas Mullen, der in seinem 2006 erschienenen Romandebüt die Bewohner einer abgelegenen Kleinstadt im Kampf gegen die unsichtbare Gefahr begleitet.

Es macht sehr viel mehr Spaß, über eine Katastrophe zu schreiben als eine zu durchleben.

Thomas Mullen: Die Stadt am Ende der Welt, S. 473

Das formuliert Thomas Mullen im Nachwort zur Paperback-Ausgabe, die der DuMont Verlag mit perfektem Timing im September 2020 veröffentlicht hat. Mullen legt in diesem Roman die Unsicherheiten und Verwerfungen einer Gesellschaft in Angst akribisch offen. Das mag kein klassischer Krimi sein, es ist aber literarisch hochwertige Spannungsliteratur!

Zumal sich Mullen nicht auf die Auswirkungen der Pandemie beschränkt. Zugleich handelt es sich bei der Kleinstadt Commonwealth um ein idealistisches Projekt: Der Sägewerkbesitzer Charles Worthy und seine Frau Rebecca verwirklichen ihre Idee eines Wirtschaftens ohne Ausbeutung und eines basisdemokratischen Zusammenlebens. Viele anarchistisch gesinnte Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter leben in der Gemeinde, viele verweigern im Ersten Weltkrieg den Kriegsdienst. Die Gefahr beschränkt sich nicht auf das Virus!

Commonwealth – sozialistisches Paradies auf Erden?

Mullens Geschichte spielt im fiktiven Ort Commonwealth, der fernab anderer Städte im US-Staat Washington liegt. Dieser Ort ist das Werk von Charles Worthy, der aus einer einflussreichen Sägewerk-Unternehmensfamilie in Everett stammt. Der blutig niedergeschlagene Streik der Industrial Workers of The World in seiner Heimatstadt 1916 erschreckt ihn: Zusammen mit seiner links-eingestellten Frau Rebecca will er eine Utopie verwirklichen. Eine eigene Stadt, die allen gehört. Eine eigene Stadt, die allen gehört? Diese Formulierung zeigt ein Spannungsverhältnis auf. Die Gemeinde ist als basisdemokratisches Projekt gedacht und verwirklicht, dennoch besitzt Charles Worthy als Unternehmer einen überproportionalen Einfluss. Er denkt auch längst nicht so links wie seine Frau, die sich unter anderem in der Suffragetten- und Antikriegsbewegung engagiert.

Trotz des offensichtlichen Spannungsverhältnisses fühlen sich die Menschen in dieser „Mischung aus sozialistischem Zufluchtsort und kapitalistischem Unternehmen“ (S. 29) wohl. Viele haben beim Streik in Everett auf der Seite der militanten Gewerkschaft gekämpft und mussten große Opfer bringen. Mitbestimmung, Arbeitsschutz, ein eigenes Haus: Das Leben in Commonwealth mag nicht vollständig der Utopie entsprechen, es kommt ihm aber näher.

Gesundheitsschutz in Commonwealth: richtiger Ansatz, fatale Folgen

Die Stadt ist jung, das Konzept muss sich bewähren. Die Spanische Grippe gefährdet das Projekt, intuitiv plädiert Charles Worthy bei einer Bürgerversammlung für radikale Maßnahmen. Dazu gehört, die Stadt komplett abzuschotten und die Ein- und Ausreisesperre mit bewaffneten Wachen durchzusetzen. Isolation und Co.: Viele Regeln ähneln den Einschränkungen während der Corona-Pandemie.

Heute wissen wir: Charles Worthy und Co. entscheiden richtig, als sie die Krankheitserreger fernhalten und isolieren wollen. Heute wissen wir auch: Solche radikalen Maßnahmen führen zu Unmut in der Bevölkerung. So kritisiert Rebecca Worthy die Einschränkungen – die Pandemie spaltet Familien. Zum Unmut gesellt sich Panik, die Situation überfordert. Besonders eindrücklich sind die kurzen Kapitel, in denen Mullen die Dialoge anonymer Bewohner wiedergibt – zwischen Unverständnis, Unsicherheit und Alternativ-Methoden:

„Was hast du da um den Hals?“

„Halt die Klappe.“

„Nein, was ist das?“

„Knoblauch.“

Thomas Mullen: Die Stadt am Ende der Welt, S. 302

Die einen zeigen sich widerwillig, die anderen wünschen sich noch schärfere Maßnahmen. Dieses andere Extrem wird von Graham verkörpert. Er hat während des Streiks seine große Liebe verloren und nun eine Familie aufgebaut. Das Virus gefährdet seine Existenz. Das Virus ist sein Feind, den er mit allen Mitteln bekämpft.

Graham ist zugleich der beste Freund von Worthys Adoptivsohn Philip, der die wichtigste Figur in diesem Roman ist. Die beiden übernehmen gemeinsam Bewachungsschichten an der Stadtgrenze. Ein Soldat taucht auf. Es kommt zur Katastrophe.

Die angespannte Lage gefährdet zunehmend den Zusammenhalt in der Bevölkerung und persönliche Beziehungen. Die Spanische Grippe bricht als Spaltpilz in dieses gemeinwohlorientierte Idyll ein.

Gefahr von außen: Rückzugsort für Gewerkschafter und Kriegsdienstverweigerer

Die Stärke dieses Spannungsromans liegt darin, dass Mullen die Folgen der Spanischen Grippe geschickt mit zwei anderen Themen verknüpft: dem Everett-Massaker 1916 und der nationalistischen Stimmung während des Ersten Weltkriegs. Beides keine Fiktion, sondern historisch verbürgte Realität.

Das Everett-Massaker ging aufgrund seiner Brutalität in die Geschichte ein: Ein Bündnis aus Staat und Kapital bekämpfte die widerständigen Mitglieder der Industrial Workers of the World, die sogenannten Wobblies, mit massiver Gewalt. Die Gewerkschaftsseite hatte mehrere Todesopfer zu beklagen. Der traurige Höhepunkt war der Blutsonntag. Gewerkschafter aus Seattle reisten zur Unterstützung auf Schiffen an, am Hafen wurden sie mit Kugeln empfangen. Thomas Mullen schildert diese Szene in einer Rückblende eindrücklich.

Es liegt auf der Hand: Der Elite in Everett ist das Projekt Commonwealth, wo viele Wobblies wie der Anführer Rankle ihre neue Heimat gefunden haben, ein Dorn im Auge. Im Zuge des US-amerikanischen Kriegseintritts ergreift zudem eine nationalistische Welle das Land. Auf beiden Seiten gibt es Überschneidungen: Während das Establishment zusammen mit patriotischen Bürgern obsessiv für den Krieg wirbt und nach „Drückebergern“ sucht, melden sich viele Einwohner in Commonwealth nicht zum Kriegsdienst. Eine konfliktträchtige Konstellation!

Ausgezeichnete Recherchen: Thomas Mullen als Autor politischer Krimis

Mit „Die Stadt am Ende der Welt“ legte Mullen 2006 ein gefeiertes Debüt vor. Die New York Times verglich das Werk mit „Die Pest“ von Albert Camus. Spätestens mit dem Südstaaten-Krimi „Darktown“ (Link zu Thalia)1 und den beiden Folgebänden, in denen er die erste schwarze Polizeieinheit in Atlanta thematisiert, hat sich Mullen hierzulande etabliert. In „Die Stadt am Ende der Welt“ zeigt er bereits seine Stärke: Er verbindet Fiktion mit den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaften – spannend und fundiert!

„Die Stadt am Ende der Welt“ von Thomas Mullen bei Thalia kaufen.2 Oder in der örtlichen Buchhandlung.

Diese Rezension basiert auf:

Thomas Mullen: Die Stadt am Ende der Welt, 2020, DuMont (Paperback), 480 Seiten

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