Dror Mishani: Vertrauen

Dror Mishani: Vertrauen

Seit dem 7. Oktober 2023 scheint die sogenannte Israelkritik wieder in Mode zu sein und ganz neue Blüten zu treiben. Mit Blick auf diverse Protestaktionen und Social-Media-Postings beschleicht einen der Verdacht: Einige meinen, einiges über Israel zu wissen, wissen aber nichts.

Dies lässt sich auf unterschiedliche Weise ändern: So gibt es viele gut geschriebene Sachbücher über die israelische Gegenwart und Geschichte. Im Dezember 2023 veröffentlichte der Leipziger Verlag Hentrich & Hentrich zum Beispiel das Standardwerk „1948. Der erste arabisch-israelische Krieg“(Werbelink zu Thalia)1, in dem der Historiker Benny Morris Verbrechen von beiden Seiten benennt und sie zugleich in den Gesamtkontext einordnet. Ein Buch, das die Komplexität offenlegt. Komplex war es gestern, komplex ist es heute. Aktuell empfiehlt sich diese Lektüre vor allem für jene, die den brutalen Angriff der Hamas als Freiheitskampf fehlinterpretieren, alle Israelis in Querdenker-Manier zu weißen Siedlern machen und als Queers im queerfreundlichen Israel den Hauptfeind sehen.

Eine andere Möglichkeit, in die Komplexität der israelischen Gesellschaft einzutauchen, sind die lesenswerten Krimis von Dror Mishani. Der weltweit bekannte Autor lässt seinen schwermütigen Kommissar Avi Avraham in der vielfältigen Bevölkerung der Region Tel Aviv ermitteln. Mishani klärt uns wie beiläufig über den Alltag in Israel auf. Ob Konflikte zwischen Aschkenasim und Sephardim, ob soziale Ungerechtigkeiten, ob Rassismus oder die Allgegenwärtigkeit der Terrorgefahr: Wir erfahren viel über das Leben und die Menschen auf diesem besonderen Flecken Erde, der viel zu häufig in den Nachrichten ist.

Cover Dror Mishani Vertrauen Diogenes Verlag

Vertrauen: Avi Avrahams fünfter Fall

Mishani schreibt in bedächtigem Stil, präzise, aufschlussreich: Das beweist er auch im fünften Band der Avi-Avraham-Reihe – „Vertrauen“. Der 43-jährige Avi arbeitet mittlerweile als Leiter des Ermittlungsdezernats, denkt aber über einen Wechsel in eine landesweit operierende Abteilung oder in ein anderes Sicherheitsorgan nach. Frustriert glaubt er, dass seine Aufklärungsarbeit bei Morden niemandem etwas nutze. Iran an der Atombombe hindern oder gegen korrupte Politiker (Netanjahu!) ermitteln, hält er für eine sinnvollere Beschäftigung. Momentan dagegen:

Du bist ein ‚Detektiv‘. Wie Kurt Wallander, nur mit blätterndem Putz an den Wänden, mit fleckiger Wachstuchdecke und schadhaften Fensterläden.

Dror Mishani: Vertrauen, S. 17

Zudem schlägt ihm der Tod seiner ehemaligen Vorgesetzten aufs Gemüt. Sie hat in den Wochen vor dem Tod den Kontakt mit Avi verweigert, das macht ihm zu schaffen.

Das Alltagsgeschäft in Cholon, einem Vorort von Tel Aviv, holt ihn aber ein. Er beschäftigt sich mit diversen Fällen, allesamt deprimierend. Ein ausgesetztes Baby. Und ein Schweizer, der nach dem Einchecken in ein Hotel verschwindet.

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Im Fall des ausgesetzten Babys führt die Spur rasch zu Liora, welche das Kleinkind zweifelsfrei in einem Einkaufszentrum abgestellt hat. Die sehbehinderte Kollegin Avras, Esthi, verzweifelt im Verhör aber. Liora streitet selbstsicher alles ab. Und weist zugleich auf ihren Mann David hin – angeblich ermordet. Aus der Perspektive Lioaras erfahren wir, dass sie einen Plan verfolgt. Wir wissen aber nicht, um welchen Plan es sich handeln soll. Die bösartig-gehässig erscheinende Liora lässt nicht nur Esthi verzweifeln! Und spielt auf einen grundlegenden Konflikt in der israelischen Gesellschaft an:

Vor sechzig Jahren habt ihr Eltern ihre Babys weggenommen und ihnen erzählt, die wären gestorben, nur um sie an kinderlose Aschkenasim zu geben …“

Dror Mishani: Vertrauen, S. 73

Der Hotelgast bleibt derweil spurlos verschwunden. Der Fall ist mysteriös und zieht Kreise. Als Avi einen Kollegen informiert, reagiert dieser erschrocken:

Mit dem Mossad? Wieso ist sie dann bei dir gelandet? Und warum ziehst du mich da mit rein?

Dror Mishani: Vertrauen, S. 83

Irgendwann löst sich dieser mysteriöse Fall überraschend schnell. Auffällig schnell. Avi zweifelt. Und ermittelt.

Israelischer Krimi mit hohem literarischen Anspruch

Dror Mishani bezeichnet die Avi-Avraham-Reihe als „literarische Krimireihe“. Seine Vorbilder nennt er in „Vertrauen“ und den anderen Bänden indirekt, indem er Avi zum Fan dieser Krimischriftsteller macht: Georges Simenon mit seinem Maigret und Henning Mankell mit seinem Wallander. Mishani neigt insgesamt dazu, seine Krimis mit einer Fülle an Querverweisen anzureichern. Avis ehemaliger Hund hieß „Sherlock“, in „Vertrauen“ beginnt Avi mit der Lektüre eines Kriminalromans von Leonardo Sciascia. Als der Polizist in Frankreich anruft, trifft er auf einen Frédéric Glauser: Spätestens hier schießt der Autor meines Erachtens über das Ziel hinaus und setzt dieses Mittel überbordend ein.

Von dieser kritischen Anmerkung abgesehen: Der fünfte Fall der Avi-Avraham-Reihe bereitet großes Lesevergnügen und ist zugleich lehrreich. Spannend unter anderem, wie Mishani die Nicht-Kooperation und das Gegeneinander der Sicherheitsbehörden schildert. Und wie es ihm gelingt, in diesem Roman zahlreiche Themen anzuschneiden. Zum Abschluss ein weiteres Beispiel:

Das klingt nach einer dieser amerikanischen Storys über eine mysteriöse femme fatale, an deren Ende immer die Frau schuldig ist. Die habe ich nie gemocht.

Dror Mishani: Vertrauen, S. 317

„Vertrauen“ von Dror Mishani bei Thalia kaufen.2 Oder in der lokalen Buchhandlung. Das Taschenbuch zu „Vertrauen“ ist Ende April 2024 erschienen.

Diese Krimirezension basiert auf folgender Ausgabe:

Dror Mishani: Vertrauen, 2022, Diogenes Verlag (E-Book), 352 Seiten (Print)

Weiterführende Lesetipps und Informationen:

  • In „Vertrauen“ geht es auch um das Abtreibungsrecht in Israel. Die konkreten Regeln des Abtreibungsrechts thematisierte 2022 die Jüdische Allgemeine. Frauen können zum Beispiel abtreiben lassen, wenn sie unverheiratet sind. Ein Komitee überprüft diese Anträge.
  • Im Schweizer Tagesanzeiger hat Dror Mishani nach dem 7. Oktober „Mein unheroisches Kriegstagebuch“ veröffentlicht. Teil 3 ist ohne Paywall verfügbar. Differenzierte Beobachtungen eines Schriftstellers, der den Glauben an Frieden nicht aufgeben will. Und der den Blick stets auf unbekannte Menschen und Geschichten abseits des öffentlichen Interesses richtet. Im Tagebuch schreibt er: „Anstatt dich selbst rekrutieren zu lassen, könntest du Avi Avraham, deinen Ermittler, für den Krieg rekrutieren, könntest ihm die Lösung eines der kleinen Rätsel anvertrauen, die sonst an den Rändern des Kriegsgesamtbilds verloren gehen?“
  • Für „Drei“ als vierten Fall der Avi-Avraham-Reihe hat Mishani den Deutschen Krimipreis erhalten.

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