Helga Riedel: Einer muss tot

Helga Riedel: Einer muss tot

Zuwanderung und Integration: Diese Themen bestimmen seit einigen Jahren die bundesweite Debatte, sie sind aber alles andere als neu. Das belegt eindrucksvoll der Krimi „Einer muss tot“ aus dem Jahr 1983. Die Autorin Helga Riedel erzählt von einer Frau im ländlichen Norddeutschland, die sich um türkische Migranten kümmert. Es endet in einer Katastrophe: „Einer muss tot.“

Die Lektüre lohnt sich nicht nur, um in die westdeutsche Migrationsgeschichte einzutauchen. Dieses Buch ist auch ein Meilenstein anspruchsvoller deutscher Kriminalliteratur: Für „Einer muss tot“ sowie „Wiedergänger“(Werbe-Link zu Thalia)1 erhielt Riedel 1985 den ersten Deutschen Krimipreis! Die Verantwortlichen der heute bedeutendsten Krimiauszeichnung in Deutschland unterstrichen mit dieser Wahl ihr Anliegen. Sie würdigten und würdigen Kriminalromane, die gesellschaftlich relevant sind und zugleich das 0815-Schema von Krimis ignorieren.

Anspruchsvoll ist „Einer muss tot“ – in allen Belangen. Helga Riedel sprengt die engen Grenzen des Krimigenres und regt zum Nachdenken an. So kümmert sich die Protagonistin Anna zwar intensiv um türkische Migranten, lässt einen aber dennoch die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Naiv und mit egozentrischen Zügen trägt sie zu der nahenden Katastrophen bei.

Cover Helga Riedel Einer muß tot, Rowohlt Verlag E-Book

Cover des 2017 veröffentlichten E-Books – Rowohlt Verlag

Clash of Cultures im norddeutschen Hinterland

Zu Beginn zählt Riedel die Hauptpersonen auf. Neben Anna Wildenbruch („sanftmütig und kompromisslos“) und Ahmet Adanir („entwurzelt und sucht seine Heimat in Soltebüll“) erwähnt sie den Kommissar, der nie die Wahrheit erfahren werde.

Mit diesem Zusatz macht sie deutlich, dass es sich bei „Einer muss tot“ um keinen klassischen Krimi handelt. Es geht nicht um polizeiliche Ermittlungsarbeit, Riedel fokussiert auf die Dynamik zwischen Anna und Ahmet – einem ihrer Sprachschüler und ihr späterer Liebhaber.

Die Rahmenhandlung ist die Vernehmung von Anna, Kommissar Petersen empfindet Sympathie. Der erste Satz dieses Krimis lautet:

Es erschien ihm ganz und gar unglaublich, dass sie getötet haben sollte, und es gab, soweit er sehen konnte, auch nicht das geringste Motiv.

Helga Riedel: Einer muss tot, S. 9

Nach und nach entfaltet sich die ganze Tragik dieser Geschichte. Die selbstbewusste Anna auf der einen Seite. Alleinerziehend, hilfsbereit, allen Bindungen aus dem Weg gehend. Sie liebt das Erobern von Männern, verliert aber rasch das Interesse.

Auf der anderen Seite Ahmet. Seit sieben Jahren als „Tourist“ in Soltebüll, bildet zusammen mit wenigen anderen Landsleuten eine kleine türkische Community. Mit gänzlich anderen Vorstellungen von Liebe und Beziehung.

Anna kümmert sich um den Sprachunterricht für neu hinzugekommene Türken, in diesem Rahmen lernt sie den bereits länger in Soltebüll wohnenden Ahmet kennen. Zu viel Alkohol an einem verhängnisvollen Abend: Sie findet sich am nächsten Morgen neben Ahmet wieder. Daraus ergibt sich eine kurze Liebelei.

Es liegt auf der Hand, das muss in einer Katastrophe enden: „Einer muss tot.“

Die Liebe erloschen, dennoch die Heirat: Auch das gehört zum Bild Annas. Sie fühlt sich verpflichtet, mit dieser Scheinehe Ahmet vor der Abschiebung zu retten. Zugleich hofft sie, dass sich Ahmet im Gegenzug mit dem Beziehungsende abfindet und sie in Ruhe lässt. Der Titel lässt erahnen, dass Anna die Situation falsch einschätzt.

„Einer muss tot“ – ein Krimi, dessen Bewertung schwerfällt

Dieses Buch ist grandios, daran kann es keinen Zweifel geben. Stilistisch hervorragend, innovativ, eine spannende und auch realistische Geschichte. Dennoch lässt dieser Krimi an vielen Stellen stutzen. Das liegt an der Art, wie Riedel die migrantischen Figuren zeichnet. Und sprechen lässt:

„Aber das geht nix, das ganz schwer, Frau Anna.“

„Ahmet, wir heiraten, du arbeitest und suchst dir eine Wohnung. Ich werde verrückt, wenn ich jeden Tag mit einem Mann zusammenleben muss. Und ich liebe dich nicht.“ […]

„Das geht nix, Frau Anna. Dann: einer muss tot!“

Helga Riedel: Einer muss tot, S. 140/141

Die Migranten können nur gebrochen deutsch reden, das zieht sich durch den ganzen Kriminalroman: Das führt dazu, dass sie ihre Gedanken und Gefühle nur auf Kleinkind-Niveau ausdrücken. Die Figuren bleiben schemenhaft, machen einen intellektuell beschränkten Eindruck. Zugleich entsteht beim Lesen der Eindruck, dass sie nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind (Scheinehe). In Kombination mit den traditionellen Vorstellungen ergibt sich ein eher ungünstiges Bild.

Erschütternd auch die pauschalisierenden Urteile – Beispiel:

Der Türke ist zudem außerordentlich stark an der (Groß-)Familie orientiert und findet allein in ihr und in seiner nationalen und religiösen Zugehörigkeit seine Identität.

Helga Riedel: Einer muss tot, S. 57

Ebenfalls befremdlich, zumindest aus heutiger Sicht, die Sprache: „Asylanten“, N-Wort und Co.

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Gleichwohl: Riedel spricht wichtige Themen an. Der „Clash of Cultures“ ist Realität, wenn eine emanzipierte Frau auf einen „ungebildete(n) Mann aus einem unbekannten Dorf in Anatolien“ (S.21) trifft. Sie verschont auch Anna nicht, im Krimi werden ihre Naivität und Egozentrik deutlich.

Die Autorin, die sich selbst in der Flüchtlingshilfe engagiert hat, thematisiert zudem den existierenden Rassismus. Ob Ausländerbehörde oder in der Gesellschaft: Rassismus war damals präsent, ist heute präsent.

Stellvertretend für den Rassismus in der Gesellschaft steht der Journalist Broder Jensen, ein Freund Annas. Er fällt wiederholt mit rassistischen Ausschweifungen auf, bezeichnet Migranten zum Beispiel als „Ungeziefer“ (S.85). Anna verniedlicht dies als Zynismus, anstatt den Rassismus anzuprangern und mit ihm zu brechen. Aus heutiger Sicht ein Wunder, dass diese beiden so unterschiedlich denkenden Menschen befreundet sind. Vielleicht war das damals anders und erst seit einigen Jahren führt die Polarisierung verstärkt zu Brüchen in persönlichen Beziehungen.

Das kann ich nicht beurteilen. Was ich beurteilen kann: „Einer muss tot“ empfiehlt sich – trotz der erwähnten Problematiken. Als interessanter Rückblick in die 1980er. Und zur kritischen Auseinandersetzung.

Der Rowohlt Verlag hat „Einer muss tot“ von Helga Riedel 2017 als E-Book veröffentlicht, unter anderem hier bei Thalia zu kaufen.2

Als Print ist „Einer muss tot“ nicht mehr erhältlich. 2008 erschien eine Neuauflage in der Reihe „Kriminelle Sittengeschichte Deutschlands“ bei Edition Köln – Verlag Peter Faecke, herausgegeben von Frank Göhre. Antiquarisch zum Beispiel hier bei Medimops zu erwerben.3

Diese Rezension basiert auf folgender Ausgabe:

Helga Riedel: Einer muss tot (Kriminelle Sittengeschichte Deutschlands, Band 7), 2008, Edition Köln – Verlag Peter Faecke (E-Book), 216 Seiten

Weitere Informationen und Lesetipps:

  • Helga Riedels Karriere als Krimiautorin war leider kurz. Im Juli 1985 wurde sie bei einem Autounfall schwer verletzt, sie lag lange Zeit im Koma. Bei dem Unfall gab es eine weitere schwerverletzte Person, zwei Menschen starben.
  • Hier findet sich eine kurze Begründung, warum Helga Riedel für ihre beiden Krimis 1985 den Deutschen Krimipreis erhielt.
  • In der Reihe „Kriminelle Sittengeschichte Deutschlands“ erschienen einige herausragende Krimis, beginnend mit „Duell im Dunkel“ von Egon Eis aus dem Jahr 1957. Die Herausgeberschaft verantwortete der bekannte Autor Frank Göhre, den Verlag Peter Faecke gibt es nicht mehr.

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