Gary Victor: Schweinezeiten (Dieuswalwe-Azémar-Reihe)

Gary Victor: Schweinezeiten (Dieuswalwe-Azémar-Reihe)

„Haiti: Ein Land am Abgrund“ – so betitelte der ARD-Weltspiegel kürzlich eine Reportage aus dem karibischen Land. „Schweinezeiten“ – so überschrieb Gary Victor seinen Ende der 2000er verfassten Krimi, in dem er seinen frustrierten Inspektor Dieuswalwe Azémar über seine Heimat verzweifeln lässt. Eineinhalb Jahrzehnte später die Feststellung: Manches hat sich in Haiti geändert, nichts zum Besseren.

Gary Victor ist der beste Krimiautor Haitis, seine Bücher finden auch hierzulande Anerkennung: Das im Litradukt Verlag veröffentlichte „Schweinezeiten“ aus der Dieuswalwe-Azémar-Reihe stand im Februar 2014 auf der Krimibestenliste. Zu Recht! In eindrücklicher Form schildert Gary Victor die Abgründe Haitis, Hoffnung findet sich nirgends.

„Deine Seele? Aber wozu braucht man in diesem gottverdammten Land eine Seele? Schließlich haben sie doch alle ihre Seele verkauft.“

Gary Victor: Schweinezeiten, S. 14

Der Ex-Eliteschütze Dieuswalwe ist einer der wenigen, der sich gegen die Korruption und die Machenschaften diverser schwarzer Magier (Bocore) und Freikirchen stemmt. Nur mit Unmengen an Alkohol hält sich die Hauptfigur über Wasser, er ist ein physisches und vor allem psychisches Wrack. Wer die tragische Geschichte Haitis und die dramatische Gegenwart verfolgt, kann das gut nachvollziehen.

Alleine gegen alle: hoffnungslos, schießwütig, kompromisslos

Dieuswalwe macht sich über seinen Zustand und den Zustand seines Landes keine Illusionen: Beide hält er für gescheitert, beide Schicksale sind eng miteinander verknüpft. Dieuswalwe erträgt die haitische Gesellschaft nur, indem er von morgens bis nachts in rauen Mengen Tranpe (aromatisierter Zuckerrohrschnaps) säuft. Jeder weiß von seinem Alkoholproblem, es ist nicht zu übersehen. Er versucht auch nicht, es zu verbergen. In seinem Büro schließt er die Schnapsflasche nur deshalb in seinem Schreibtisch ein, weil er sich davor fürchtet, vergiftet zu werden.

Diese Befürchtung wurzelt nicht in alkoholbedingter Paranoia, die Angst scheint berechtigt: Von seinem Chef abgesehen, kann er sich im Polizeiapparat auf niemanden verlassen. Bis vor zwei Jahren hatte er mit seinem Untergebenen Colin noch einen Verbündeten, der die moralische Kompromisslosigkeit Dieuswalwes bewunderte. Aber auch Colin hat seine Seele verkauft.

Er war wie die anderen geworden: ein Mann, der unter dem Vorwand, für seine Familie zu sorgen, zu jeder Niedertracht bereit war.

Gary Victor: Schweinezeiten, S. 32

Hoffnungslos: Dieuswalwe kompensiert das mit Alkohol und Prostituierten. Dennoch gibt er nicht auf. Schießwütig sucht er nach Gerechtigkeit, alleine kämpft er gegen das System an. Er sieht sich als gescheiterte Existenz, ihm ist alles egal – das macht ihn für die Mächtigen, die Betrüger, die Korrupten, die Duckmäuser und damit für einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft Haitis zur Gefahr.

Dieuswalwe handelt heldenhaft, taugt aber nicht zum Helden. Neben seinem Alkoholismus fällt seine Misogynie auf: So beschuldigt er Ehefrauen, einen zu hohen Lebensstandard einzufordern und somit die Ehemänner vom rechten Weg abzuhalten. Eine zweifelhafte These. Zudem nutzt er im Kleinen seine Machtstellung als Polizist aus, wenn es zum Beispiel um Preisverhandlungen mit seinem Kfz-Mechaniker geht.

Merkwürdige Machenschaften und sich in Schweine verwandelnde Menschen

„Schweinezeiten“ startet furios: Mit einem Feldzug gegen einen schwarzen Magier (Bocor), der sich an einer verzweifelten Mutter bereichert und das Wohl ihres Kindes gefährdet. Im Zentrum dieses Krimis steht aber nicht die schwarze Magie, Dieuswalwe muss sich vornehmlich mit den Aktivitäten einer Freikirche aus den USA in Haiti auseinandersetzen.

Der Inspektor läuft zur Hochform auf. Er kämpft für die einzige Person, die ihm wichtig ist: die von ihm adoptierte Tochter seiner verstorbenen Geliebten. Aufgrund massiven Drucks hat er sie in ein Pensionat der Kirche vom Blut der Apostel gegeben, von dort soll sie bald ins Ausland wechseln. Ein Fehler?

Schweine sind das Leitmotiv dieses Kriminalromans, sie sind omnipräsent. Das beschränkt sich nicht nur auf die in Port-au-Prince allgegenwärtigen tierischen Schweine, im Laufe der Handlung werden sich auch Menschen in Schweine verwandeln. Wie lässt sich dies erklären? Sind doch übernatürliche Kräfte am Werk – in einer Welt, in der Dieuswalwe konsequent gegen Aberglauben, religiösen Wahn und Co. kämpft?

„Schweinezeiten“ von Gary Victor: Haiti verstehen

Mit diesem Krimi, der im Original 2009 und damit vor dem verheerenden Erdbeben erschien, zeichnet der bekannte Schriftsteller aus Haiti ein düsteres Gesellschaftsbild. Leider ist dieses düstere Bild realistisch: Gary Victor hält der Bevölkerung und speziell den Machthabern in seinem Land den Spiegel vor. Wer hinsieht, dürfte nicht begeistert sein.

Ein famoser Krimi – genauso lesenswert wie die ebenfalls im Litradukt Verlag erschienenen Folgebände!

„Schweinezeiten“ von Gary Victor bei Thalia kaufen.1 Oder in der lokalen Buchhandlung. (Link führt zur Litradukt-Ausgabe, der Unionsverlag hat „Schweinezeiten“ ebenfalls veröffentlicht).

Diese Rezension basiert auf folgender Ausgabe:

Gary Victor: Schweinezeiten. Ein Voodoo-Krimi, 2015, Litradukt (Hardcover, Sonderausgabe für den Anderen Literaturclub der Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.), 140 Seiten

Weiterführende Linktipps und Informationen:

  • Die Situation in Haiti ist momentan dramatisch schlecht, die Gewalt eskaliert. Der ARD-Weltspiegel gibt in seiner Reportage „Haiti: Ein Land am Abgrund“ vom 17.03.2024 erschütternde Einblicke.
  • 2010 widmete „Aus Politik und Zeitgeschichte“ Haiti eine komplette Ausgabe. Diese Ausgabe können Interessierte kostenlos auf der Homepage der Bundeszentrale für politische Bildung downloaden oder online lesen.
  • Bei Litradukt handelt es sich um einen kleinen und unabhängigen Verlag, der sich auf Haiti spezialisiert hat. Das Verlagsprogramm von Litradukt umfasst neben der Dieuswalwe-Azémar-Reihe eine vielfältige Auswahl an Literatur aus Haiti.

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