Matthias Wittekindt: Vor Gericht

Matthias Wittekindt: Vor Gericht

Kriminaldirektor a. D. Manz genießt seinen Ruhestand in einer fiktiven Gemeinde nahe Dresden. Zusammen mit Freunden rudert er gerne und häufig auf der Elbe: Seine ehemalige Arbeit als Kriminalpolizist in West-Berlin und nach der Wende in Dresden beschäftigt ihn nicht mehr. Er gehört zu jenen Ruheständlern, die mit ihrem Berufsleben vollständig abgeschlossen haben. Dann erhält Manz aber eine Gerichtsvorladung nach Berlin – und er taucht tief in einen alten Fall und sein damaliges Privatleben ein.

Matthias Wittekindt zählt zu den besten Kriminalschriftstellern Deutschlands: Davon zeugen mehrere Deutsche Krimipreise, darunter der 3. Preis für „Marmormänner“ aus der Fleurville-Reihe. Auch für seine 2021 begonnene Serie über den Kriminaldirektor a. D. Manz hat er diese Auszeichnung bereits entgegengenommen. Die Jury würdigte mit „Die Rote Jawa“(Werbe-Link zu Thalia)1 den dritten Teil der Manz-Reihe.

„Vor Gericht“ bildet den Auftakt dieser Krimiserie, die im schweizerischen Kampa Verlag erscheint. Die optimale Lektüre für alle, die bedächtig und zugleich klug geschriebene Kriminalromane lieben. Was ist damals wirklich passiert? Klagt die Staatsanwaltschaft nun einen Unschuldigen an? Die Auflösung dieser Fragen sorgt für Spannung, der Krimi bietet aber weitaus mehr: Reflexionen über das Damals und das Heute – politisch wie privat.

Manz nahe Dresden: Pensionärsleben, Pegida und Nazis

Der Ruheständler Manz liebt seinen Alterssitz unmittelbar an der Elbe: Mit einer rüstigen Rentnertruppe verbringt er viel Zeit im örtlichen Ruderverein. Es klingt nach Idylle, doch die politischen Turbulenzen und der Rechtsruck machen auch vor diesem Freundeskreis nicht Halt. Einer seiner Mitstreiter hat sich in einen Wutbürger verwandelt. Die Konsequenz ist, dass die Freunde politische Themen größtenteils ausklammern. Und relativieren, so äußert Wolfgang:

„Henning war Notar. Er trinkt ein bisschen viel, und dann redet er oder marschiert irgendwo mit. Nicht schön, aber er ist ein gefasster und verlässlicher Mensch. Glaubt mir.“

Matthias Wittekindt: Vor Gericht, S. 73

Ein fragwürdiges Verhalten, dieses Schweigen und Ignorieren hat in Sachsen und nicht nur dort lange Tradition. Zugleich beschreibt Wittekindt realistisch den Umgang mit rechten Meinungen in vielen privaten Zusammenhängen. Es ist ihm auch anzurechnen, dass er diese Problematik in die Geschichte einflicht. Region Dresden und kein Hinweis auf den Rechtsruck? Das hätte etwas Unwirkliches.

Meines Erachtens übertreibt Wittekindt aber mit einem weiteren Hinweis darauf: Er schildert die Angst von Manz und weiteren Personen, auf die andere Elbseite zu wechseln. Dort treiben Nazis ihr Unwesen. Diese Tatsache allein wäre nachvollziehbar, aber warum haben ältere, weiße Menschen Angst? Sie gehören nicht zur Hauptzielgruppe von Nazi-Attacken. Nur so lässt sich erklären, warum gewaltbereite Rechte in diesen Orten toleriert werden oder gar integriert sind. Die Mehrheitsbevölkerung hat nichts zu befürchten, sofern sie sich nicht öffentlich gegen Rechts engagiert.

Mord in der Wendezeit: Rückblicke in eine Ära der Umwälzungen

Mit seinen Rückblenden in das Jahr 1990 stellt Wittekindt beiläufig einen interessanten Vergleich an: Auch damals gab es einen besorgniserregenden Rechtsruck, aber mit stärkerem Fokus auf die Zuwanderung aus dem Osten. Der in der Handlung auftretende Apotheker meinte:

Nicht die Türken. Die sind, glaube ich, gar nicht so schlimm. Aber seit die Mauer auf ist, kommen viele aus dem Osten.

Matthias Wittekindt: Vor Gericht, S. 139

Anders sah es das Mordopfer, das Wurzeln in Ungarn hatte. Sie verteilte Flugblätter der Republikaner, verteidigte aber Menschen aus dem ehemaligen Ostblock und suchte auch den persönlichen Kontakt. Wittekindt schildert eine einsame und weitgehend unsympathische Frau, die einer dubiosen Arbeit für ‚den Franzosen‘ nachging. Damals wie heute: Es fiel und fällt Manz schwer, diese Frau einzuschätzen. Entsprechend schwierig gestaltete sich 1990/1991 die Suche nach einem Verdächtigen. Zwei verdächtig erscheinende Söhne, der besagte Franzose, die Bekanntschaft aus Ungarn? Lange musste sich Manz mit dieser Frage nicht beschäftigen, er wechselte zu Beginn der Ermittlungen von West-Berlin nach Dresden.

Nun steht aufgrund eines DNA-Beweises aber der Ungar Milán Rabach vor Gericht, Manz zweifelt. Und zermartert sich den Kopf:

„Manz unterbricht seine Arbeit. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass das, was er gerade macht, höchst sonderbar ist. Er vollzieht sein Vorgehen von damals mit einer vollkommen unvernünftigen Intensität. Warum? Suche ich einen Fehler?“

Matthias Wittekindt: Vor Gericht, S. 51

Zu diesen Überlegungen gesellen sich private Erinnerungen und Reflexionen. Manz erinnert sich an Vera, seine Kollegin, der er nahegestanden hatte und die ihm doch fremd geblieben war. Eng damit zusammenhängend reflektiert er seine Ehe und es beschleicht einen das Gefühl, dass auch zwischen den Eheleuten eine gewisse Distanz herrschte und herrscht.

Wittekindts „Vor Gericht“: Lesefreude ohne Action

Ruhiger Schreibstil, komplexe Gedanken, melancholisches Ambiente: Dieser Auftakt zur Manz-Krimiserie überzeugt in allen Belangen!

„Vor Gericht“ von Matthias Wittekindt bei Thalia kaufen.2 Oder in der lokalen Buchhandlung

Diese Krimirezension basiert auf folgender Ausgabe:

Matthias Wittekindt: Vor Gericht. Ein alter Fall von Kriminaldirektor a. D. Manz, 2021, Kampa Verlag (Hardcover), 320 Seiten

Weiterführende Lesetipps und Informationen:

  • Mittlerweile hat der Kampa Verlag mit „Fünf Frauen“ den vierten Band der Manz-Krimireihe veröffentlicht. Im August 2024 folgt „Hinterm Deich“(Werbe-Link zu Thalia)3.
  • Zum Thema Rechtsradikalismus in Sachsen gibt es zahlreiche Publikationen. Gewalttätige Nazis, wie von Wittekindt auf der anderen Elbseite geschildert? Das Problem liegt in der „Ignoranz großer Teile der Stadtgesellschaft gegenüber rechten Strukturen“, wie das Netzwerk Demokratische Kultur (NDK) beispielhaft für die Stadt Wurzen nahe Leipzig feststellt. Die Mehrheitsgesellschaft ist nicht vom Nazi-Terror betroffen, sie ignoriert ihn. Der Beitrag des NDK findet sich in einer Publikation des Kulturbüro Sachsens mit dem Titel „Sachsen rechts unten 2022“, hier als pdf-Dokument.

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