Max Annas: Der Hochsitz
Jüngst meldete sich das polizeilich gesuchte RAF-Mitglied Burkhard Garweg via taz aus dem Untergrund. Bei der Lektüre dieses Pamphlets stellt sich dasselbe Gefühl wie beim Lesen von Max Annas’ Roman „Der Hochsitz“ ein: Leserinnen und Leser fühlen sich um mehrere Jahrzehnte zurückgeworfen.
Der Unterschied besteht darin, dass Garwegs Phrasen-Aneinanderreihung als wichtiger politischer Beitrag zur Gegenwart gemeint ist – Max Annas uns dagegen bewusst in die beschauliche Welt eines westdeutschen Provinznests ein Jahr nach dem Deutschen Herbst zurückversetzt. Das gelingt dem vielfach ausgezeichneten Autoren, der unter anderem für „Der Fall Melchior Nikoleit“ den Deutschen Krimipreis erhielt, vorzüglich!
Das 2021 bei Rowohlt erschienene Buch „Der Hochsitz“ lässt uns tief in die konservative Provinz Ende der 1970er eintauchen: Der RAF-Terror hinterlässt selbst in einem Eifel-Dorf unmittelbar an der luxemburgischen Grenze seine Spuren. Dieser Roman beschränkt sich aber nicht auf die RAF, er fängt vielmehr die allgemeine gesellschaftliche Stimmung im ländlichen Raum ein.
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Teilweise erfahren wir dies aus Sicht der 11-jährigen Sanne, die Annas in glaubwürdigem Tonfall aus der Ich-Perspektive erzählen lässt. In diesem multiperspektivischen Roman mit kurzen Kapiteln verfolgen wir darüber hinaus zwei RAF-Frauen, den Dorfpolizisten, eine Bewohnerin mit psychischen Herausforderungen und einen Chauffeur, der einen mysteriösen, reichen US-Amerikaner durch die Gegend fährt. Weitere Personen wie ein Bankräuber ergänzen diesen bunten Reigen.
Ein Dorf in der Eifel und die RAF
Der titelgebende Hochsitz ist der Lieblingsplatz der Ich-Erzählerin und ihrer Freundin Ulrike. Niemand weiß von diesem Versteck, sicher sind sie aber dennoch nicht: Im Laufe des Romans entgehen sie auf dem Hochsitz knapp dem Tod, anwesend auch die beiden RAF-Terroristinnen …
Von unserem Hochsitz aus kann man die ganze Welt sehen.
Körperich.
Luxemburg, jedenfalls ein Stück davon.
Max Annas: Der Hochsitz, S. 57
Die Welt von Sanne, Ulrike und den übrigen Dorfbewohnern ist überschaubar: Sonntags gehen die meisten in die Kirche, ansonsten bewirtschaftet der Großteil der Einwohner ihren jeweiligen Hof. Landwirtschaft prägt diese Gegend der Eifel – und kleinbürgerliche, konservative Ansichten.
Besucht auch meinen Blog „Hoffnung, doch. Einblicke in den anderen Osten.“ Dort berichte ich aus dem widerständigen und weltoffenen Ostdeutschland, jüngst habe ich zum Beispiel den Artikel „Sächsische Antifas mobilisieren gegen jeden Antisemitismus“ veröffentlicht.
Die RAF-Terroristinnen? Fremde in feindlicher Umgebung. Das trifft aber nicht nur auf die beiden Frauen zu. Auch der langhaarige, kiffende Bauernhof-Azubi wirkt in diesem dörflichen Ambiente wie ein Eindringling und stößt auf massive Ablehnung. Und wird schnell eines schweren Verbrechens verdächtigt.
Die beiden Kinder bekommen vieles mit, verstehen aber nicht alles. Ihr Hauptinteresse gilt sowieso dem Sammeln von Fußballbildern – kurz vor der umstrittenen WM in Argentinien. Die Hanutas mit den Sammelbildern stehlen sie im örtlichen Dorfladen, auch bei ihren Brüdern bedienen sie sich. Trotzdem klaffen weiterhin große Lücken in ihrem Album, die sie auf gewitzte Weise füllen: In der Nachbargemeinde entwenden sie ein RAF-Fahndungsplakat, schneiden die Köpfe aus und fügen sie in die Reihen des deutschen Nationalteams ein.
Peter-Jürgen Boock hat mit 29 ein gutes Alter, sieht aber irgendwie zu verzweifelt aus. Ich entscheide mich dann für Christian Klar. Weil er Rainer Bonhof ein klein bisschen ähnlich sieht, kriegt er einen Platz direkt neben ihm.
Max Annas: Der Hochsitz, S. 57
Die dörfliche Idylle – eine Mär
Wenn wir an ein Eifel-Dorf in den 1970ern denken, gehen wir von einer idyllischen Atmosphäre aus: Annas’ Kriminalroman erschüttert diesen Glauben. Und das liegt nicht nur an den beiden RAF-Frauen, die sich momentan in dieser Region aufhalten.
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In der größeren Nachbargemeinde Körperich kommt es zu einem Banküberfall. Die Petersbrüder, die einen heruntergewirtschafteten Bauernhof bewohnen, sind tief in die Drogenkriminalität verstrickt. Die Grenze zu Luxemburg zieht Schmuggler an, Drogen, Kaffee, Zigaretten. Der Höhepunkt: ein angeblicher Motorradunfall mitten in der Nacht, Sanne und Ulrike beobachten das Geschehen vom Fenster aus und sehen ein Geist. Doch niemand will ihnen glauben:
Wir sind elf Jahre alt. Aber wir sind nicht blöd.
Würden sie uns ernster nehmen, wenn wir Jungs wären?
Vielleicht.
Wahrscheinlich.
Ganz sicher eigentlich.
Max Annas: Der Hochsitz, S. 103
Und welches Ziel verfolgt eigentlich der reiche US-Amerikaner, der Hofbesitzern gigantische Summe für ihre Anwesen bietet? Diese Angebote lösen im Dorf Neid, Missgunst und Gewalt aus.
Grandioser Schilderung bundesrepublikanischer Geschichte
Max Annas schildert in diesem Roman auf faszinierende Weise die gesellschaftliche Stimmung zur Hochzeit der RAF. Sannes Vater hat auf sein Auto einen Sticker geklebt: „Ich gehöre nicht zur Baader-Meinhof-Gruppe.“ Das findet er witzig, Provinzhumor.
Zu lachen gibt es wenig. Es dominieren reaktionäre Weltanschauungen, die Linken sind der Feind: Ob langhaariger Azubi, SPD oder RAF, alles gehört bekämpft. Dabei ergeben sich aber überraschende Überschneidungen. Die reaktionären Wutbauern und die RAF hassen die Banken gleichermaßen. Annas thematisiert auch die sexuelle Belästigungen, denen die beiden Mädchen ausgesetzt sind. Hinter den dörflichen Fassaden – ein Abgrund!
Thomas Wörtche bezeichnete „Der Hochsitz“ von Max Annas bei Deutschlandfunk Kultur als „ein starkes Stück Literatur“. Dem ist nichts hinzufügen.
Diese Krimirezension bezieht sich auf folgende Ausgabe:
Max Annas: Der Hochsitz, Rowohlt Verlag (Hardcover), 2021, 274 Seiten
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