Robert Brack: Dammbruch
Der Autor Robert Brack gilt als einer der wichtigsten Vertreter des Hamburg-Krimis: Er schreibt aber keine 0815-Regionalkrimis, sondern lokal verankerte Krimis auf hohem literarischen Niveau. Sein Kriminalroman „Dammbruch“ über die verheerende Hamburger Sturmflutflut 1962 beweist dies.
Die Naturkatastrophe bildet in diesem Krimi den Rahmen, in dem die beiden Hauptfiguren agieren: Lou und Betty verfolgen jeweils ihre eigenen kriminellen Ziele und kennen sich nicht. Sie laufen sich in einer Kneipe aber zufällig über den Weg und treffen sich später wieder: schicksalshafte Begegnungen.
In „Dammbruch“ entfaltet Brack eine einzigartige Geschichte, in der er das Hamburger Leben in den frühen 1960ern und die Auswirkungen der Katastrophe eindrücklich schildert. Das geschieht wie nebenbei: Im Zentrum stehen Lou und Betty und Menschen, die mit ihnen in Berührung kommen. Prägnant und mitreißend erzählt! Nicht jeder Tote in diesem Krimi geht auf das Konto der Flut – so viel sei verraten.
Die Wege von zwei Kriminellen kreuzen sich – mitten in der Katastrophe
Als Hauptfigur dieses Hamburger Krimis präsentiert Brack den 27 Jahre alten Lucius „Lou“ Rinke – einen Berufsverbrecher, der frisch aus dem Gefängnis kommt. Er eifert seinem Vater nach: „Eigentum ist Diebstahl“, das ist das Motto in dieser kommunistischen Familie. Beide grenzen sich vom reinen Ganoventum ab, sie betrachten ihr Handeln politisch. Lou benutzt zum Beispiel bewusst keine Ganovensprache, weil er typische Kriminelle für „besitzgierige Kleinbürger“ hält, die sich von normalen Bürgern nur durch ihre „Ungeduld und Skrupellosigkeit“ (S. 62) unterscheiden würden.
Trotz dieser Gemeinsamkeiten zwischen Vater und Sohn finden sich Unterschiede: Lou denkt zwar ebenfalls politisch, handelt aber im Gegensatz zu den Eltern vornehmlich eigennützig. Mit dem letzten großen Coup will er sich den Traum einer neuen Existenz verwirklichen – in einem anderen Land. Hierbei soll der minderjährige Piet helfen – ein unerfahrener Jugendlicher, der sich bisher mit Kleinkriminalität aller Art über Wasser gehalten hat.
Die zweite Hauptfigur ist nicht dieser jugendliche Kompagnon, sondern Betty: eine Vertriebene aus dem Osten, die sich als Haushälterin und Pflegerin um einen Alt-Nazi kümmert. Sie wohnt bei diesem gebrechlichen und jähzornigen Mann – in einer Gartenkolonie unterhalb des Meeresspiegels, in der auch in den 1960ern noch viele Ausgebombte und Vertriebene wohnen. Die Folgen des Krieges sind in diesem Buch von Robert Brack allgegenwärtig. Unter dem Meeresspiegel: Jeder ahnt, was später passieren wird.
Bereits zu Beginn des Buchs lässt der Autor Betty prophetisch sagen:
Mit der Natur kann man nicht einfach kurzen Prozess machen, mit den Menschen schon.
S. 6
Lou und Betty: Diese zwei Menschen verbindet, dass sie als Einzelgänger agieren. Zu seinen Eltern hat Lou keinen Kontakt, er verfügt auch über keine engen Freunde. Bei Betty taucht während der gesamten Handlung kein persönliches Umfeld auf. Lou und Betty: Diese beiden Individuen fühlen sich beim ersten Aufeinandertreffen sofort zueinander hingezogen. Kann das gut gehen?
Kriminalität und Katastrophe: Jeder kämpft für sich alleine und gegen die Naturgewalt
Als Leser wissen wir, welches Ungemach den Protagonisten in diesem Krimi droht. Das verleiht der Handlung von „Dammbruch“ eine dramatische Spannung: Lou und Betty ahnen wie alle anderen nichts, sie konzentrieren sich auf ihre Pläne. Lou hat es auf eine illegale Ladung eines Schiffs abgesehen, der geplante Diebstahl ist zugleich ein politischer Akt. Bettys Anliegen bleibt lange Zeit im Verborgenen, ihr Hass auf Männer wird aber rasch deutlich. Viel später im Kriminalroman äußert sie ihr Lebensmotto:
Entweder du beklaust sie oder sie beklauen dich. Es hatte nie eine andere Möglichkeit gegeben. Stehlen, lügen, betrügen oder bestohlen, belogen und betrogen werden. Töten oder getötet werden.
S. 148
Unter zunehmend widrigen Bedingungen verfolgen Lou und Betty ihre jeweils eigenen Ziele, dabei taucht Brack tief in die damalige Welt von St. Pauli und Wilhelmsburg ein. Lou übernachtet zum Beispiel in einer Absteige auf der Seilerstraße – während der Nazi-Zeit ein inoffizieller Treff der widerständigen Swing-Jugend in Hamburg.
Die Protagonisten und die vielfältigen Nebenfiguren wie der Polizeiobermeister Adrian Mattei kommentieren zwar ständig das Unwetter, erfassen aber nicht die Gefahr: Die Deiche werden halten, denken die meisten. Sie halten nicht, das Unglück nimmt seinen Lauf. In eindrücklicher Weise beschreibt der Autor diesen Horror. Lou und Betty halten aber unbeirrt an ihren Plänen fest. Jeder für sich alleine – oder am Ende doch gemeinsam?
„Dammbruch“ von Robert Brack – ein famoser Hamburger Krimi
Seit den frühen 1980ern wohnt der vielfach ausgezeichnete Autor Brack in der Hansestadt, mehrere zeitgeschichtlichen Krimis mit Lokalkolorit stammen aus seiner Feder. In der im Ullstein-Verlag erschienen St. Pauli-Reihe lässt er seinen Kommissar Alfred Weber zu Zeiten der Weimarer Republik ermitteln. Die meisten Krimis hat Brack aber im Verlag Edition Nautilus veröffentlicht, darunter sein 2023 erschienenes Buch „Schwarzer Oktober“ (Link zu Thalia)1, das während des Hamburger Aufstands 1923 spielt. Für „Dammbruch“ hat er den Ellert & Richter Verlag gewählt – ein in Hamburg beheimatetes Verlagshaus, das sich unter anderem auf Lokalgeschichte, Regionalkrimis und Reiseliteratur konzentriert.
Ob „Dammbruch“, „Schwarzer Oktober“ oder der von der Schneekatastrophe 1978/1979 handelnde und ebenfalls im Ellert & Richter Verlag erschienene Krimi „Blizzard“: Alle drei Werke finden sich auf der Krimibestenliste des Deutschlandfunk Kultur.
Nachvollziehbar: Robert Brack schreibt atmosphärisch dicht und literarisch auf hohem Niveau, davon können sich Leser bei der Lektüre von „Dammbruch“ überzeugen. Zugleich ist dieser Sturmflut-Thriller historisch lehrreich. Von der Wohnungsnot über Alt-Nazis bis zum mangelnden Bevölkerungsschutz: Das Buch berührt viele Themen.
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„Dammbruch“ von Robert Brack bei Thalia kaufen.2 Oder in der lokalen Buchhandlung.
Diese Rezension basiert auf folgender Ausgabe:
Robert Brack: Dammbruch, 2021, Ellert & Richter Verlag (E-Book), 160 Seiten (Print: 240)
Weiterführende Lesetipps:
- Die Stiftung Historische Museen Hamburg bietet einen lesenswerten Artikel, der sich mit den Ursachen dieser Katastrophe beschäftigt. Neben zu niedrigen Deichen nennt der Autor Mario Bäumer mangelhafte Kommunikation und den fehlenden Katastrophenplan als Gründe für die verheerenden Ausmaße. Diese beiden Punkte schildert auch Robert Brack detailliert.
- Im Buch nur ein Nebenaspekt: die Swing-Jugend in Hamburg als widerständische Jugendbewegung während der Nazi-Zeit. Vor einigen Jahren besuchte ich im AZ Conni in Dresden eine Lesung mit Sascha Lange, der sein im Ventil Verlag erschienenes Buch „Meuten, Swings & Edelweißpiraten. Jugendkultur und Opposition im Nationalsozialismus“ (Link zu Thalia)3 vorstellte. Dieses Sachbuch sei hiermit empfohlen!
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