Cecil Oker: Schnee am Bosporus (Krimi mit Remzi Ünal 1)
Der Autor Cecil Oker zählt zu den großen Persönlichkeiten der türkischen Kriminalliteratur: Mit „Schnee am Bosporus“ verlieh er dem Krimigenre in seinem Heimatland entscheidende Impulse, bis dato waren türkische Krimis rar gesät. Das gilt insbesondere für Kriminalromane mit Privatdetektiven als Hauptfigur. Und dann so ein Aufschlag! Der erste Fall mit Remzi Ünal besticht mit seiner Mischung aus Hardboiled-Anleihen und selbstironischer Erzählung in der Ich-Perspektive.
Das Reizvolle an „Schnee am Bosporus“ ist, dass sich der Autor zweifelsohne an den großen US-amerikanischen Vorbildern im Bereich Detektivroman orientiert und sich zugleich davon absetzt. Raymond Chandler, Dashiell Hammett und Co.: Einerseits finden sich viele Überschneidungen. So agiert auch Remzi Ünal als Einzelgänger, die in Strafgesetze gegossene Gerechtigkeit und die Pflichten als Bürger interessieren ihn nur peripher. Strebt er überhaupt Gerechtigkeit an, will er in den Lauf der Dinge eingreifen? Eigentlich nicht. Hier gleicht sich die Figurenzeichnung mit jener in anderen Detektivromanen.
Andererseits: Remzi Ünal ist kein harter Hund, er begibt sich nicht bewusst in Gefahr. Manchen Kampf übersteht er nicht heldenhaft – er macht sich lächerlich. Im Nachwort zu diesem türkischen Krimi, der im Jahr 2000 im Züricher Unionsverlag erschienen ist, offenbart Cecil Oker seine Motivation: Er hat die Figur des Remzi Ünal als „Anti-Bond“, als Gegenentwurf zu den Protagonisten der verbreiteten Agentenromane entworfen.
Türkischer Privatdetektiv: desinteressiert, laienhaft, unsicher, erfolgreich
Zu Beginn von „Schnee am Bosporus“ erfahren wir, dass Remzi Ünal bis zu seinem Rauswurf als Pilot bei Turkish Airlines gearbeitet hat. Als Privatdetektiv versucht er sich eine neue wirtschaftliche Existenz aufzubauen. Das ermöglicht ein schwammig formuliertes Gesetz, das diesen Beruf ohne konkrete Definition erlaubt. Cecil Oker bezieht sich hier auf die Gesetzgebung in der Realität.
Kurzum: Remzi Ünal ist laienhafter Anfänger ohne Erfahrung und Know-how. Zugleich fehlt es in der Öffentlichkeit und vor allem bei den Sicherheitsbehörden an Akzeptanz für diesen Beruf. Remzi Ünal zieht daraus die Konsequenz, dass er jeden Kontakt mit der Polizei konsequent meidet. Das wird ihm in seinem ersten Fall gelingen.
Worum geht es? Remzi Unäl erhält dank einer Anzeige in der „Hürriyet“ seinen ersten Auftrag, aus der Stadt Tarsus nahe Mersin meldet sich ein Geschäftsmann. Er sucht dringend seinen Neffen, der an der Bosporus-Universität in Istanbul studiert. Der gescheiterte Pilot macht sich auf die Suche, es läuft wie am Schnürchen. Auf Seite 39 scheint das Happy End nahe.
Meine Arbeit schien so gut wie beendet, bevor sie überhaupt begonnen hatte.
Cecil Oker: Schnee am Bosporus, S. 39
Doch Remzi Ünal täuscht sich. Eine Leiche, Heroin, ein Drogenkartell, pornografische Aufnahmen: Der Privatdetektiv erlebt in seinem geliebten Istanbul manche Turbulenzen. Apropos Istanbul: Er unterscheidet Menschen strikt danach, ob sie Istanbuler Dialekt sprechen oder aus der Tiefe der türkischen Provinz stammen:
Einen ähnlich breitgewalzten Dialekt hatte ich zuletzt vernommen, als der gewiefte Zwischenhändler, dem ich mein altes Auto verkaufen wollte, mich hereinzulegen versuchte.
Cecil Oker: Schnee am Bosporus, S. 7
Ur-Istanbuler oder Zugezogener aus Anatolien: Diese Frage dürfte auch im heutigen Istanbul eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen – vor allem so kurz vor den wichtigen Kommunalwahlen in der Türkei, die in einer knappen Woche stattfinden.1
„Schnee am Bosporus“: Remzi Ünal und das säkulare Istanbul
Bei diesem 1999 geschriebenen Krimi fällt eines auf – allemal aus heutiger Sicht: Das weitgehende Fehlen von Frauen mit Kopftuch, erst gegen Ende taucht eine ältere Frau mit Kopfbedeckung auf. Sie erinnert Remzi Ünal an vergangene Zeiten, an die Jetzt-Zeit denkt er nicht. Die von Erdogan betriebene Islamisierung des öffentlichen Raums scheint weit weg: Auch „Schnee am Bosporus“ wirkt ein bisschen wie aus vergangenen Zeiten.
Aber: Das säkulare Istanbul gibt es auch heute noch, wie die Wahl des Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu von der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP vor fünf Jahren eindrucksvoll bewies. Beşiktaş sowie das Viertel Ataköy im Stadtbezirk Bakırköy: Die wichtigsten Handlungsorte im Krimi sind die Hochburgen der säkularen Opposition. So erhielt İmamoğlu bei der Istanbuler Bürgermeisterwahl 2019 in Beşiktaş 83,9 %, in Bakırköy 79,3 %,. Zu Ataköy meint Remzi Ünal:
[…] strahlt eine intensive urbane Atmosphäre aus, die mich irgendwie beruhigt.
Cecil Oker: Schnee am Bosporus, S. 50
Cecil Oker konnte 1999 nicht wissen, was in den Jahrzehnten danach folgt: Gleichwohl lässt sich „Schnee am Bosporus“ auch als präventive Liebeserklärung an das säkulare Istanbul lesen, inklusive Schattenseiten – zwischen freizügigen Studierenden, Sexkinos, Selbstbestimmung, Alkohol, Lebensfreude und Drogen. Und zwar ohne staatliche Einschränkungen im heutigen Maße. Die säkularen Istanbuler mögen widerständig sein, der Bürgermeister der säkularen Opposition angehören – ganz spurlos ist die AKP-Herrschaft auch an Beşiktaş, Atiköy und Co. nicht vorbeigegangen. Die Bebauung des Gezi-Parks und die Gezi-Proteste waren ein eindrückliches Beispiel.
Cecil Oker und sein erster Krimi mit Remzi Ünal: Pionierleistung
Lässig-locker erzählte Krimiunterhaltung: Das bietet Cecil Oker in seinem ersten Krimi mit Remzi Ünal, der sich mit seinen rund 150 Seiten in kurzer Zeit und ohne allerhöchste Konzentration lesen lässt. Die perfekte Lektüre in der Bahn oder im Urlaub. Trotz dieser Leichtigkeit handelt es sich bei „Schnee am Bosporus“ um ein bedeutendes Werk der türkischen Kriminalliteratur. In mehrfacher Weise innovativ: Remzi Ünal gehört in der Krimihandlung zu einem der ersten Privatdetektive in Istanbul – in der Realität ist Cecil Oker einer der ersten Autoren von Detektivromanen in der Türkei. Der 2019 verstorbene Autor hat Krimifans in seinem Heimatland – und weit darüber hinaus – eine legendäre Figur geschenkt. Und erhielt dafür als erster Gewinner den türkischen Krimipreis Kaktus – vom gleichnamigen Café ausgeschrieben.
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„Schnee am Bosporus“ von Cecil Öker bei Thalia kaufen.2 Oder in der lokalen Buchhandlung.
Diese Rezension basiert auf folgender Ausgabe:
Cecil Oker: Schnee am Bosporus. Remzi Ünals erster Fall, 2000, Unionsverlag (Taschenbuch), 160 Seiten
Weiterführende Informationen und Lesetipps:
- In der Taschenbuch-Ausgabe findet sich eine lesenswertes Nachwort des Autors. Er erklärt darin zum Beispiel, dass er Remzi Ünal als „unauffällige Gegenfigur zu den unbesiegbaren, damenverschleißenden Bond-ähnlichen Typen der Agentenliteratur“ (S. 152) konzipiert hat.
- Thomas Wörtche hat auf CrimeMag im Rahmen eines Nachrufs auf Cecil Oker ein älteres Interview mit ihm veröffentlicht.
- Der Zuzug aus der Provinz kommt grundsätzlich der AKP zugute, während Ur-Istanbuler deutlich zur säkularen Opposition neigen dürften. Insgesamt ist das Bild aber gemischt: Es hängt stark davon ab, aus welcher Gegend Zugezogene stammen. Die Stadt Tarsus in der Provinz Mersin ist zum Beispiel eine Hochburg der kemalistisch-sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP. Die Bedeutung der Zugezogenen bei Wahlen in Istanbul ist riesig: Der jetzige Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu hat deshalb im Wahlkampf 2019 viele Wahlkampfveranstaltungen in den CHP-lastigen Heimatprovinzen absolviert – ein Kuriosum, aber konsequent. ↩︎
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