Thomas Mullen: Lange Nacht
In wenigen Monaten wählt die US-Bevölkerung einen neuen Präsidenten – die Blicke richten sich schon jetzt auf die entscheidenden Swing States. Dazu gehört Georgia: Die massive Mobilisierung der schwarzen Community hat 2020 dazu geführt, dass Joe Biden diesen Staat überraschend gewonnen hat. Auch beide Senatoren stammen seitdem aus den Reihen der Demokraten.
Wer sich diesen Wandel erklären und die historische Bedeutung des damaligen Wahlsiegs erfassen will, lese Thomas Mullens dreiteilige Krimireihe über die erste schwarze Polizeieinheit in Atlanta. „Darktown“(Link zu Thalia)1, „Weißes Feuer“ und „Lange Nacht“: Mullen gibt in dieser Trilogie tiefe Einblicke in den Kampf um Gleichberechtigung in einem rassistisch geprägten Südstaat in den 1940ern und 1950ern.
Damals prägten ebenfalls Demokraten diesen Staat, der Wandel der Demokratischen Partei hin zu einer Bürgerrechtspartei sollte aber noch Jahre dauern – allemal im Süden. Dennoch spielten schwarze Wähler längst eine Rolle, einzelne demokratische Politiker setzten bei den Wahlen auf deren Stimmen. Dazu zählte der damalige, real existierende Bürgermeister William B. Hartsfield, der die schwarze Wählerschaft mit einer kleinen, weitgehend machtlosen Polizeieinheit für die eigenen Viertel lockte. Hartsfield galt damals als „racial moderate“, sein Slogan: „Atlanta is a city too busy to hate.“
Die Geschichte ist Fiktion, aber nahe an der historischen Wahrheit. So gab es diese Polizeieinheit genauso wie den Bürgermeister wirklich. Mullen arbeitet wissenschaftlich, wie seine Quellenangaben am Ende des Buches belegen. Dieses Prinzip hatte er schon bei seinem Debütroman „Stadt am Ende der Welt“ angewandt.
Spannend und lehrreich: Dem DuMont-Verlag gebührt Dank, dass er die Trilogie zeitnah in deutscher Sprache veröffentlicht hat! Der dritte Band erschien unter dem Titel „Midnight Atlanta“ 2020 in den USA, im selben Jahr folgte DuMont mit der deutschen Ausgabe „Lange Nacht“. Ob ein separater deutscher Titel dafür notwendig war, bezweifle ich jedoch.
Ex-Cop Tommy Smith in der Bredouille
In der Krimiserie kristallisierten sich bereits im ersten Band drei Hauptfiguren heraus, allesamt Mitglied der ersten schwarzen Polizeieinheit: Tommy Smith, der Draufgänger und Undiplomatische. Lucius Boggs, der Sohn eines einflussreichen Pastors. In vielen Aspekten das Gegenteil von Tommy. Und der weiße Chef Joe McInnis.
Diese Konstellation hat sich in einem entscheidenden Punkt geändert: Tommy arbeitet nun als Journalist bei einer der führenden schwarzen Zeitungen. Auf seiner neuen Tätigkeit liegt der Fokus dieses Südstaatenkrimis. Tommy schläft nächtens betrunken im Büro, ein Schuss weckt ihn auf. Als er nachsieht, findet er den Verleger Arthur Bishop tot vor.
Es liegt nahe, was nun passiert: Die rassistische Polizei verdächtigt Tommy, obwohl kein nachvollziehbares Motiv vorliegt:
Sie waren fast da, genau jene weiße Cops, mit denen Smith es nicht ertragen konnte, zusammenzuarbeiten. Und dieses Mal hatten sie es auf ihn abgesehen.
Thomas Mullen: Lange Nacht, S. 19
Dieser Krimi thematisiert aber weit mehr als den Rassismus in der Polizei, Mullen leuchtet akribisch die vielfältigen Facetten des Rassismus und die zahlreichen Konfliktlinien in der Gesellschaft aus. So kämpft die schwarze Community für Bürgerrechte, es gibt aber längst auch innerhalb Spannungen zwischen einem Establishment und dem Rest. Der ermordete Verleger gehörte zweifelsohne zum Establishment, das sich bis zu einem gewissen Grad mit den Zuständen arrangiert.
Im Verlaufe der Krimihandlung wird auch die kommunistische Vergangenheit einzelner Personen eine Rolle spielen. Und ihr Wandel. Der Antikommunismus ist nicht allein Sache der Weißen, auch er treibt Keile in die schwarze Community. Und welche Rolle spielen wohlhabende Schwarze bei der Gentrifizierung schwarzer Viertel?
Zugleich befindet sich Joe McInnis im Gewissenskonflikt. Der klassische Südstaaten-Demokrat hat seine Versetzung zur ersten schwarzen Polizeieinheit als Bestrafung empfunden – so meinten dies die Vorgesetzten auch. In seiner weißen Nachbarschaft leidet er unter seiner Funktion, seine Frau hofft auf eine erneute Versetzung zurück zu den weißen Cops. McInnis eigentlich auch. Dann wird sie ihm überraschend angeboten. Wie reagiert er darauf?
Die Bürgerrechtsbewegung in den Südstaaten: damals und heute
Thomas Mullen beeindruckt, indem er sich detailliert mit den vielfältigen Dimensionen der schwarzen Geschichte, der rassistischen Diskriminierung und des Kampfes dagegen befasst. Diesen Südstaatenkrimi siedelt er im Jahr 1956 an, als Martin Luther King jr. den Busboykott in Montgomery (Alabama) unterstützt. Die gesellschaftliche Situation ist auch in Kings Heimatstadt Atlanta angespannt – der Kampf für Gleichberechtigung provoziert in der Gesellschaft und bei den Behörden Gegenreaktionen.
Martin Luther King jr.: Diese legendäre Figur steht beispielhaft für die Besonderheiten der Bürgerrechtsbewegung in den Südstaaten. Während im Norden schwarze Communitys bis heute deutlich radikaler ihre Rechte einfordern, setzen die Communitys im Süden traditionell auf Reformen und die Macht des gewaltlosen Widerstands.
Die erste schwarze Polizeieinheit ist ein Musterbeispiel dafür: Lucius Boggs und andere sehen darin einen ersten, wenngleich kleinen Schritt zur Gleichberechtigung. Sie dürfen zwar keine Weißen verhaften, sie sehen sich ständig mit rassistischen weißen Cops konfrontiert, dennoch besteht die Hoffnung auf die schrittweise gesellschaftliche und politische Anerkennung ihrer Rechte. Lucius zweifelt trotz grundsätzlicher Hoffnung immer wieder, auch hier zeigt sich Mullens differenzierte Figurenzeichnung.
Und heute: Diese Traditionen existieren weiter. Wegbereiterin der demokratischen Wahlsiege ab 2020 ist die Politikerin Stacey Abrams, die seit vielen Jahren eine Wahlrechtskampagne organisiert und die schwarze Community zur Wahlbeteiligung animiert. Wie im Süden üblich mit einer kaum zu überschätzenden Rolle der Kirchengemeinden. Reformprozess statt Revolution, friedliche Protestformen statt Ausschreitungen: Das prägt den schwarzen Süden bis heute.
Südstaatenkrimi „Lange Nacht“: Thomas Mullen überzeugt abermals
Eine fiktive Geschichte, beruhend auf Tatsachen, zu schreiben: Diese Kunst versteht Thomas Mullen meisterhaft. Das umfangreiche Literaturverzeichnis zeigt eindrucksvoll, wie akribisch und wissenschaftlich er agiert. Interessant: In der Danksagung begründet er, warum er bei den Vorgängerbänden vorübergehend auf den Literaturanhang verzichtet hat – im Gegensatz zu seinem Debütroman. Literaturkritiker bemängelten diesen Anhang, weil es bei fiktionalen Werken nicht üblich sei. Unverständlich, das Verzeichnis ist ein Gewinn und bietet großen Mehrwert!
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„Lange Nacht“ von Thomas Mullen bei Thalia kaufen.2 Oder in der lokalen Buchhandlung.
Diese Krimirezension basiert auf folgender Ausgabe:
Thomas Mullen: Lange Nacht, 2021, DuMont Buchverlag (Taschenbuch), 448 Seiten
Weiterführende Informationen und Lesetipps:
- Die Online-Redaktion der Tagesschau hat sich 2022 der Wahlrechts- und Wahlmobilisierungskampagne in Georgia gewidmet. Unter dem Titel „Das sind wir unseren Vorahnen schuldig“ spricht sie auch die Bedeutung der Kirchengemeinden an.
- Auf dieser US-Homepage findet sich ein kompakter Artikel inklusive Fotos über die erste schwarze Polizeieinheit in Atlanta.